Das Lied der Maori
»Zumindest hat sie sich nicht gewehrt. Er hat sie nicht aus dem Haus gezerrt; sie muss ihm und Elaine gefolgt sein. Ansonsten war da natürlich nicht viel zu verführen. Oder wie Daphne es ausdrückt: Die Kerle fallen dem Mädchen zu wie reife Pflaumen.«
Fleurette musste beinahe lachen. Diese Ausdrucksweise war sie von Helen nun wirklich nicht gewohnt.
»Und nun wird er ihr in die Canterbury Plains folgen. Was sagt Mommy dazu?«, fragte sie. Helens Schultern zuckten wieder. »Ich glaube, sie weiß es noch nicht. Aber ich habe einen ziemlich hässlichen Verdacht. Ich fürchte, Gwyn sieht in diesem William die Antwort auf ihre Gebete ...«
»Elaine wird darüber hinwegkommen.«
Das war es, was Fleurette in den kommenden Wochen hörte. Immer und immer wieder, denn Williams Abgang war natürlich Stadtgespräch. Zwar war nur Elaine Zeuge seiner Zärtlichkeiten mit Kura geworden, doch bei seiner Kündigung hatten etliche Kunden und Angestellte mitgehört. Und besonders die Frauen von Queenstown zählten spätestens eins und eins zusammen, als die Worte Canterbury Plains fielen – und Gwyneira und Kura Warden praktisch am gleichen Tag abreisten wie Rubens Buchhalter. Elaine traute sich kaum in die Stadt, obwohl Fleurette ihr vorhielt, dass sie sich nun wirklich nicht zu schämen brauche. Die meisten der Leute waren auch eher mitfühlend. Die älteren Bürger von Queenstown hatten Elaine ihren Verehrer nicht geneidet, und so viele ehrbare Mädchen in ihrem Alter, die sich über ihr Unglück genüsslich die Mäuler zerrissen hätten, gab es nicht. Trotzdem weinte Elaine unaufhörlich. Sie vergrub sich in ihrem Zimmer und schluchzte, als könne sie nie wieder aufhören.
»Das gibt sich wieder«, meinte Daphne, als Helen ihr beim Teetrinken davon berichtete. Elaine bewachte nicht mehr die Rezeption, und sie half auch nicht mehr im Laden. Wenn sie gerade nicht weinte, trieb sie sich mit ihrem Hund und ihrem Pferd in den Wäldern herum. Unweigerlich kam sie an Stellen vorbei, an denen sie sich mit William getroffen, mit ihm Picknick gemacht oder ihn geküsst hatte – mit der Folge, dass sie wieder in Tränen ausbrach.
»Es war halt die erste Liebe. Da muss man durch. Ich weiß noch, wie ich damals geheult habe. Ich war zwölf, und er war Seemann. Er hat mich entjungfert, der Mistkerl, und dafür nicht mal bezahlt. Stattdessen hat er mir erzählt, dass er mich heiratet und in die weite Welt mitnimmt. Was war ich für ein dummes Ding! Seit wann nehmen Matrosen ihre Liebchen mit auf See? Aber er spann sein Garn, er würde mich in einem Rettungsboot verstecken. Als er dann verschwunden war, brach für mich die Welt zusammen. Seitdem traue ich keinem Mann mehr. Aber das ist die Ausnahme, Miss Helen. Die meisten fallen gleich auf den nächsten Kerl rein. Es wäre fein, wenn Ihre Lainie was zu tun kriegte. Herumsitzen und weinen tut ihr nicht gut.«
Also versuchte Helen mit Bitten – Fleurette und Ruben mit sanftem Druck –, Elaine zur Aufgabe ihres Exils zu bewegen. Doch es gelang erst nach einigen Wochen, sie wieder in den Ort zu locken und zur Mitarbeit im Laden oder im Hotel zu bewegen.
Das Mädchen, das schließlich wie früher Stoffmuster herumzeigte und Gästelisten schrieb, war nicht mehr die alte Elaine. Nicht nur, dass sie abgenommen hatte und blass und übernächtigt wirkte – das waren die Folgen des Liebeskummers, wie Daphne erklärte. Alarmierend war eher Elaines Verhalten. Sie lachte die Leute nicht mehr an, ging nicht mehr hocherhobenen Kopfes durch den Ort, ließ nicht mehr ihre Locken fliegen. Stattdessen versuchte sie, sich unsichtbar zu machen. Sie half lieber in der Küche als an der Rezeption, arbeitete lieber im Lager als in der Beratung der Kunden. Wenn sie ein Kleid kaufte, wählte sie nichts Fröhliches, Buntes mehr, sondern etwas Unauffälliges. Und ihr Haar ... »als hätten Engel Kupfer gesponnen«. Wieder so ein Spruch, den William niemals ernst gemeint hatte. Früher hatte Elaine es gemocht, wenn ihre Locken sie wie elektrisiert umtanzten. Jetzt glättete sie es ungeduldig mit Wasser, bevor sie die Locken im Nacken zusammenband, statt sie zu bürsten und damit noch weiter aufzuladen.
Das Mädchen schien auf seltsame Weise geschrumpft zu sein; sie schlurfte mit gesenktem Blick und gebeugtem Rücken umher. Und jeder Blick in den Spiegel war für Elaine eine Qual, sah sie doch nur ein hässliches, bestenfalls durchschnittliches Gesicht. Dumm und untalentiert – nichts im Vergleich zu der
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