Das Lied der Maori
Boden. Elaine stockte der Atem. Sie konnte es nicht fassen. Das konnte doch nur Einbildung sein! Wenn sie jetzt die Augen schloss und wieder öffnete, würde sie William und Kura bestimmt nicht mehr sehen.
Sie versuchte Atem zu holen und zu blinzeln, doch als sie wieder hinschaute, küsste das Paar sich immer noch. Selbstvergessen, eine Silhouette im Mondlicht, das die Straße erhellte. Plötzlich flammte Licht im Haus auf, und die Tür öffnete sich.
»Kura! Was tust du da, um Himmels willen?« Grandma Helen! Also war es keine Einbildung. Helen hatte es auch gesehen. Und jetzt ...
Helen hätte später selbst nicht sagen können, was sie bewogen hatte, vor dem Schlafengehen noch einmal nach unten zu gehen – vielleicht die Blumen, die Lainie vergessen hatte. Sie hatte so erwartungsvoll davon gesprochen. Bestimmt kam sie zurück, wenn sie den Verlust noch unterwegs bemerkte. Und dann waren da diese Schatten vor dem Haus, oder dieser eine Schatten.
Und Hufschläge ...
Helen sah, wie Kura und William auseinanderfuhren – und blickte einen Herzschlag lang in die entsetzt aufgerissenen Augen ihrer Enkelin, bevor sich deren Schimmelpony auf der Hinterhand herumwarf und wie vom Teufel getrieben die Main Street heruntergaloppierte. Nur weg.
»Du kommst augenblicklich herein, Kura! Und Sie, Mr. William, suchen sich bitte gleich eine andere Bleibe. Sie werden keine Nacht mehr mit dem Kind unter einem Dach verbringen. Geh auf dein Zimmer, Kura, wir sprechen uns morgen!« Helens Lippen bildeten einen schmalen Strich, und zwischen ihren Augen stand eine steile Falte. William verstand plötzlich, warum seine Goldgräberkollegen so einen Heidenrespekt vor ihr hatten.
»Aber ...« Das Wort blieb ihm im Hals stecken, als Helen ihn anschaute.
»Kein Aber, Mr. William. Ich will Sie hier nicht mehr sehen.«
7
»Glaub es mir, Fleur, ich habe ihn nicht gefeuert!«
Ruben O’Keefe war die inquisitorischen Fragen seiner Frau allmählich leid. Er hasste es, wenn Fleurette ihre schlechte Laune an ihm ausließ, obwohl er doch nun wirklich unschuldig war an der familiären Katastrophe um Elaine, William und Kura.
»Er hat von selbst gekündigt. Will in die Canterbury Plains, sagt er. Er brauchte auf Dauer eben doch Schafe ...«
»Das glaube ich!«, giftete Fleurette. »Er hat vermutlich zehntausend ganz bestimmte Schafe im Auge! Ich hab dem Kerl nie getraut! Wir hätten ihn gleich hinschicken sollen, wo der Pfeffer wächst!«
Fleurette merkte selbst, dass sie Ruben auf die Nerven fiel, doch am Ende dieses Tages brauchte sie einen Blitzableiter. Am Abend zuvor hatte sie Elaine zwar heimkommen hören, aber nicht mehr gesprochen. Am Morgen war das Mädchen dann nicht zum Frühstück heruntergekommen, und Fleur hatte Banshee ungenügend abgewartet in ihrem Stall gefunden. Natürlich hatte Elaine sie gefüttert und ihr eine Decke übergeworfen, aber abgewaschen oder wenigstens abgerieben hatte sie die Stute nicht. Dabei sprachen der angetrocknete Schweiß in ihrem Fell für einen scharfen Ritt, und es sah Elaine gar nicht ähnlich, das Pferd zu vernachlässigen. Schließlich war sie hinaufgegangen, um nachzusehen, was dem Mädchen fehlte, und hatte ihre Tochter weinend und offensichtlich untröstlich im Bett gefunden, das Hündchen Callie an sich gedrückt. Fleurette bekam nichts aus ihr heraus; erst Helen berichtete am Nachmittag, was geschehen war.
Auch das war kaum zu glauben: Helen kam allein mit Leonards Pferd vor einem geliehenen Dogcart nach Nugget Manor. Dabei umging sie es zumeist, selbst zu kutschieren oder gar zu reiten. Früher in den Canterbury Plains hatte sie zwar ein Maultier gehabt, doch nach Nepumuks Tod kein neues Reittier angeschafft. Und an diesem Morgen hatte sie auch Gwyns Hilfe nicht in Anspruch genommen.
»Gwyneira packt«, erklärte sie schmallippig, als Fleurette sie darauf ansprach. »Es tut ihr alles schrecklich leid, und sie sieht ein, dass man Elaine Kuras Anblick in der nächsten Zeit besser nicht zumutet. Ansonsten aber hat sie sich mit Strafmaßnahmen sehr zurückgehalten. Und von einem Internat in England oder noch besser in Wellington war auch nicht mehr die Rede. Dabei wäre das die einzige Lösung für diesen verwöhnten Fratz. Sie müsste lernen, dass sie nicht alles kriegt, was sie will.«
»Du meinst, sie hat William verführt?«, fragte Fleurette. Sie war eigentlich nicht gewillt, dem jungen Mann auch nur in Gedanken mildernde Umstände einzuräumen.
Helen zuckte die Achseln.
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