Das Lied der roten Erde (German Edition)
Dahinter, so hatte Joseph erklärt, läge westlich die Mündung des Hawkesbury, nach Osten hingegen käme man ins offene Meer.
Der größere der beiden Eora -Männer, die sie begleiteten, stieß einen leisen Ruf aus und winkte. Das kleine Boot lag kieloben im Dickicht, von Schlingpflanzen nahezu vollständig überwuchert. Mit Steinmessern und bloßen Händen räumten sie die zähen Ranken beiseite. Zwei Paddel kamen zum Vorschein. Auf den ersten Blick sah das Boot, das gerade eben Platz für drei Personen bot, unbeschädigt aus, aber dann erblickte Duncan etliche winzige, kreisrunde Löcher – das Werk von Holzkäfern. Ob sie damit eine längere Seefahrt überstehen würden?
»Das wird schon gehen«, behauptete Samuel leichthin, als hätte er seine Gedanken erraten. Er wollte das Boot bereits durch das Gebüsch ziehen, als sich zeigte, dass eines der Paddel einen langen Riss hatte und zu brechen drohte.
Joseph nutzte die erzwungene Pause, um Duncan und Samuel zu erklären, an welchen Landmarken sie sich orientieren mussten, um zur Mündung des Hawkesbury zu kommen. In der Zwischenzeit schienten die beiden Eora das Paddel mit einer behelfsmäßigen Konstruktion aus einem dicken Ast und Pflanzenfasern und stopften die kleinen Wurmlöcher so gut es ging mit Moos und Holzstückchen aus. Samuel wartete ungeduldig, bis sie fertig waren, dann schleifte er das Boot ans steinige Ufer.
»Was tust du?«, fragte Duncan. »Moira ist noch nicht da!«
»Ich will nur sehen, ob es schwimmt.« Samuel versetzte dem Boot einen Stoß, bis es auf den leichten Wellen schaukelte, dann zog er es wieder ans Ufer. »Na also. Damit paddle ich bis nach Timor!« Er grinste breit, als Duncan ihn argwöhnisch ansah, und stieß ihn in die Seite. »He, war nur ein Scherz! Aber sobald ich was gegessen habe, kann’s von mir aus losgehen.« Er stapfte zurück an den Rand des Waldes, wo Joseph und die beiden Eora ein kleines Feuer entfacht hatten.
Duncan blieb stehen und warf einen prüfenden Blick zum Himmel. Es war Nachmittag, das Licht war ein trüber Schein, die Wolken hingen tief und schienen in der drückenden Hitze ihre Last kaum tragen zu können. Fast wünschte er, es würde anfangen zu regnen, damit sich diese unheilschwangere Spannung löste. Im Nordosten, dort, wo das Meer sein sollte, war der Himmel dunkelgrau.
Rauch und der Geruch nach Gebratenem drangen ihm in die Nase. Vielleicht hätte er wie Samuel etwas essen sollen, aber dafür war er viel zu unruhig. Sein Blick ging zurück zum Wald. Wo blieb Moira nur? Hatte Ningali sie überhaupt gefunden? War ihnen etwas passiert? Oder waren sie aufgehalten worden? Joseph hatte behauptet, Ningali sei schon einmal an dieser Bucht gewesen. Aber die beiden waren allein in der Wildnis unterwegs. Sicher, Ningali kannte den Busch, aber sie war noch ein Kind, wenn auch ein ungewöhnliches. Ihnen konnte Gott weiß was zugestoßen sein – gefährliche Tiere, Soldaten … Plötzliche Angst schnürte ihm die Kehle zu. Er murmelte ein kurzes Gebet, dann atmete er tief ein und verbot sich jeden weiteren düsteren Gedanken. Sie würden kommen.
*
Der Dingo trabte hechelnd neben ihnen her. Unmengen kleiner Stechmücken schienen es darauf abgesehen zu haben, sie lebendig aufzufressen. Mo-Ra versuchte ständig, die winzigen Biester mit der freien Hand zu vertreiben. Dennoch schien sie glücklich und voller Erwartung. Auch Ningali freute sich darauf, Dan-Kin wiederzusehen. Ihren Bruder. So frisch war dieses Wissen, dass sie es noch nicht einordnen konnte.
Dann hallte weit entfernt ein grauenhafter Schrei durch den Busch. Sie vernahm mehrere dumpfe Donnerschläge, dann weitere Schreie.
»Duncan!«, stieß Mo-Ra hervor und wollte das Pferd wenden, hin zu dem Gebrüll, das nun fast nichts Menschliches mehr an sich hatte.
Ningali drehte sich um, zog an ihrem Ärmel und schüttelte den Kopf. »Nein.« Sie lauschte. Dann griff sie in den aus Gras geflochtenen Beutel, der an ihrem Hüftband hing, und holte das golden glänzende Ding daraus hervor, das Major gehörte.
Wieder gellten die Schreie durch den Wald – die Schreie eines Menschen in höchster Todesnot. Der Sumpf war tückisch. Erhielt Major nun seine gerechte Strafe? Nein, das war nicht Major.
»Was hast du da?«, fragte Mo-Ra. Schwarze Haarsträhnen klebten ihr feucht an Stirn und Schläfe, ihre Züge waren noch immer angespannt.
Ningali lächelte, ohne zu antworten. Wie hätte sie Mo-Ra auch
Weitere Kostenlose Bücher