Das Lied der roten Erde (German Edition)
Familie hätte mich sicher nicht mit offenen Armen aufgenommen.«
Moira konnte ein Grinsen nicht zurückhalten, als sie sich vorstellte, wie ihre Mutter auf Duncan reagiert hätte: »Ein Mann unter deinem Stand, und dann auch noch ein Papist!« Nein, das wäre ganz und gar nicht in Frage gekommen.
»Ich wäre mit dir weggelaufen«, murmelte sie. Dann setzte sie sich auf, von einer plötzlichen Erregung gepackt. »Und das können wir immer noch! Irgendwohin, wo uns niemand kennt. Nur du und ich. Oder wir suchen uns ein Schiff und fahren nach … nach Amerika. Oder nach Batavia, in Niederländisch-Indien.« Sie konnte Duncans Gesicht nicht sehen, da er den Kopf zur anderen Seite gedreht hatte. »Was sagst du dazu?«
Jetzt setzte auch er sich auf. »Du wirst nicht weglaufen. Du hast hier einen Mann, ein Heim, eine sichere Zukunft.«
»Ich bin hier aber nicht glücklich. Ich bin nur mit dir –«
»Und ich werde auch nicht weglaufen«, unterbrach er sie. Er nahm einen Strohhalm in die Hand und drehte ihn zwischen seinen Fingern. »Der Doktor hat mir zugesagt, sich für meine Begnadigung einzusetzen.«
»Und das glaubst du ihm?«
»Wieso sollte ich an ihm zweifeln?«
Sie hob die Schultern. »Ich weiß nicht. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass er so etwas tun würde.«
»Der Doktor ist kein schlechter Mensch. Höchstens ein bisschen eigenartig.«
»Du kennst ihn nicht so, wie ich ihn kenne.«
Duncan sah sie ruhig an. »Kennst du ihn denn wirklich?«
»Nein«, gab Moira achselzuckend zu. »Aber das will ich auch gar nicht. Und ich will jetzt auch nicht länger über ihn reden. Eigentlich«, sie nahm ihm den Strohhalm aus der Hand, »will ich gar nicht mehr reden.«
»Ganz wie Ihr wünscht, Mrs McIntyre.«
Duncans Hand glitt an ihrem Bein hinauf und legte sich auf die zarte Haut ihres Schenkels. Moira seufzte wohlig auf und ließ sich zurück ins Stroh sinken. Und dann war nur noch eines wichtig.
*
Die Schläge prasselten auf den entblößten Rücken des Sträflings. Man hatte ihn mit ausgebreiteten Armen an den breiten Stamm der großen Tanne gebunden, die auf dem Versammlungsplatz stand. Zwei Männer, der eine rechts, der andere links von ihm, schwangen abwechselnd die Peitsche. Wie zwei Drescher die Gerste, so schlugen sie im Wechsel auf ihr Opfer ein. Der Boden war rot von Blut.
Der junge Mann – sein Name war Paddy Galwin, wie Alistair sich zu erinnern glaubte – war schon der zweite, der dieses Martyrium erdulden musste. Sein Leidensgenosse vor ihm hatte die dreihundert Schläge mit stoischem Gleichmut ertragen – eine bemerkenswerte Leistung angesichts des barbarischen Akts. Anschließend hatte er jede Hilfe abgelehnt und war allein in den Karren geklettert, der ihn ins Lazarett bringen würde.
Alistair ließ seinen Blick über die Menge der Zuschauer schweifen. Alle waren sie hier versammelt: Reverend Marsden aus Parramatta, einige Konstabler, Lagerleiter Sergeant William Penrith, der sich sichtlich unwohl fühlte, und dessen Bruder, Major James Penrith, der die ganze Aktion angeordnet hatte.
Alistair wäre der unerfreulichen Szene am liebsten ferngeblieben, aber bei Auspeitschungen mit mehr als fünfzig Schlägen musste ein Arzt anwesend sein. In diesem Augenblick bedauerte er zutiefst, nicht doch mit seiner Frau und den Wentworths nach Sydney gefahren zu sein. Wer hatte denn wissen können, dass an diesem Frühlingsvormittag das Militär in Toongabbie auftauchen würde? Alle männlichen Sträflinge hatten hier erscheinen müssen, um dem unschönen Spektakel beizuwohnen. Man hatte sogar den Papistenpriester Harold herbeigebracht und ihn gezwungen, seine Hand gleich neben die von Galwin an den Stamm zu legen. Er musste jeden einzelnen Schlag spüren. Und auch Joseph Holt, der Rebellengeneral, war anwesend und musste nah bei dem Verurteilten stehen. Wie Alistair gehört hatte, war er vor wenigen Tagen verhaftet worden, weil man ihm, genau wie dem Priester, vorwarf, mit den Rebellen gemeinsame Sache zu machen.
Die ersten hundert Schläge hatte Galwin auf seine Schultern erhalten, bis man die hellen Knochen der Schulterblätter sehen konnte. Der Major hatte daraufhin angewiesen, tiefer zu schlagen. Inzwischen war auch dort rohes Fleisch zu sehen. Dennoch kam kaum ein Laut aus dem Mund des schmächtigen Gefangenen. Als Arzt war Alistair den Anblick von Blut gewöhnt, aber diese Demonstration militärischer Willkür widerte
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