Das Lied der roten Steine: Australien-Saga (German Edition)
strich sich gedankenverloren über die Bartstoppeln am Kinn, während er Nans Norfolk-Dialekt übersetzte. Die Pearces hatten ein Kind verloren, und Jessica hatte höchstwahrscheinlich einen Zusammenbruch erlitten. So etwas kam vor. Jetzt war ihm auch klar, warum ein Arzt von Simons Ruf sich an einem so ruhigen Ort vergrub.
»Ich verstehe. Nun, dann müssen wir ihr helfen, wieder neu anzufangen, nicht wahr?« Als Antwort auf seine Frage erhielt Marcus nur ein unterdrücktes Gähnen von seiner Schwester.
»Ja, mein Lieber, das werden wir.« Nan lächelte ihn an. »Ich bin fertig. Lass uns morgen früh darüber sprechen.«
Irgend etwas hämmerte in ihrem Kopf. Oder hatte irgendein gemeiner Mensch ein Metallband um ihren Schädel gelegt und zog es nun boshaft immer fester zu? Sie betete, dass der Schmerz aufhören sollte, aber das tat er nicht. Stöhnend wälzte sie sich auf den Bauch und vergrub das Gesicht in den Kissen. Sie lag im Sterben, so viel war klar. Wer sich so schlecht fühlte, hatte nicht mehr lange zu leben. Auch ihr Magen fühlte sich seltsam an, irgendwie schwächlich. In ihrer Kehle stieg etwas Galle auf, und sie würgte. Nein, das war mehr als nur ein Schwächegefühl.
Sue Levinski kletterte, sich den Kopf haltend, aus dem Bett und bewegte sich, so schnell es ihre bleiern müden Beine zuließen, ins Bad. Fünf Minuten später hatte sie ihren Mageninhalt in die Toilettenschüssel entleert, schnappte nach Luft und wartete darauf, dass sich das Schwindelgefühl verzog. Es half ihr dabei, sich am Waschbecken festzuhalten, während sie versuchte, ihr Bild im Spiegel klar zu erkennen.
Es gelang ihr erst, nachdem sie ein paarmal heftig geblinzelt hatte. Die üblicherweise glatte Haut auf ihrer Stirn war von Runzeln zerfurcht. Ihre dunklen Augen hatten blassblaue Ringe, und ihr tintenschwarzes Haar, auf das sie sonst so stolz war, klebte ihr im wahrsten Sinne des Wortes aalglatt am Kopf. Ihre Haut – die um diese Jahreszeit normalerweise sportlich gebräunt war – wirkte außergewöhnlich blass.
Sie sah schrecklich aus, und genauso fühlte sie sich.
Wie viel hatte sie gestern Abend nur getrunken? Un sicher zuckte sie mit den schmalen Schultern, was den Schmerz in ihrem Kopf verstärkte. Sie konnte sich nicht mehr erinnern. Sie wollte es eigentlich auch nicht. An einiges allerdings konnte sie sich erinnern, vor allem daran, dass sie Schwierigkeiten hatte, was ihre Übelkeit nur noch schlimmer machte.
Sie war stolz auf ihre Diplomatie, auf ihre Fähigkeit, mit allen Leuten auszukommen. Selbst aus einer harten Umgebung in den Hinterhöfen von Newtown kommend, einer Vorstadt von Sydney, hatte Sue Levinski früh im Leben gelernt, dass nett zu sein sie weiter bringen konnte, als wenn sie missgelaunt und gemein war. In ihrer Schulzeit hatte sie sich bei allen Lehrern beliebt gemacht, selbst wenn sie in dem Fach, das sie unterrichteten, nicht immer gut war. Sie war der Meinung, dass sie nie irgendwo durchgefallen war, weil sie sie glauben ließ, dass Sue Levinski eine nette Person war, die sich redlich bemühte, sodass die Lehrer sie dafür entsprechend belohnten, zumindest damit, dass sie ihr gute Noten gaben. Während ihrer ganzen Karriere und dem schnellen Aufstieg in den Rängen der Krankenschwestern zur stellvertretenden Oberschwester in einer Pflegeanstalt in Liverpool im jugendlichen Alter von achtundzwanzig Jahren und nun zur Oberschwester im Krankenhaus von Norfolk Island waren Nettigkeit und Freundlichkeit sowie der intuitive Umgang mit Menschen der Schlüssel zu ihrem Erfolg gewesen.
Das, was sie über das Vorwärtskommen im Leben gelernt hatte, hatte sie nicht unbedingt mit der Muttermilch aufgesogen.
Bereits mit acht Jahren hatte Sue gelernt, sich von ihrer Mutter fernzuhalten, besonders, wenn Joan Levinski, im Alter von fünfunddreißig bereits Alkoholikerin, von einer Sauftour kam. Die Stimmungsschwankungen ihres Vaters Yani und sein Hang zu Beruhigungsmitteln – um den Schmerz zu betäuben, der von einem Arbeitsunfall auf einer Baustelle herrührte, wie er sagte – machten ihn zu einem Grenzfall von manischer Depression. Und ihr großer Bruder Rick war, da er bereits mit vierzehn angefangen hatte, Hasch zu rauchen, ebenfalls kein großes Vorbild. Bereits mit zwanzig wies er die gleichen Schwächen auf wie seine Eltern.
Sobald sie konnte, war Sue aus ihrem Elternhaus und aus Newtown geflüchtet und hatte während ihrer Ausbildung zur Krankenschwester im Schwesternwohnheim gewohnt. Ihr
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