Das Lied der roten Steine: Australien-Saga (German Edition)
Jugendtraum war es gewesen, einen Arzt zu heiraten, wovon in ihrem Jahrgang die Hälfte der Schwestern träumte, weil ihnen das ihrer Meinung nach ein bequemes, finanziell unabhängiges Leben bescheren würde. Ein paarmal war sie nahe daran gewesen, doch der eheliche Erfolg blieb aus, daher konzentrierte sie sich auf ihre Karriere. Sie hatte nicht die Absicht, ihr ganzes Leben lang Oberschwester am Krankenhaus von Norfolk zu bleiben. O nein, Norfolk war nur ein Sprungbrett für Besseres. Da war sie sich ganz sicher.
Sie wusste, dass sie ihren Job als Oberschwester am Krankenhaus gut machte. Durch sie lief das kleine Krankenhaus wie eine gut geölte Maschine. Sie hatte stets den Finger am Puls des Geschehens und sorgte für gute Laune bei Patienten und beim Personal, mit dem sie gut zusammenarbeitete. Hatte sie Schwierigkeiten mit einem bestimmten Mitglied des Mitarbeiterstabes, vielleicht persönliche Differenzen oder wenn jemand einfach schwierig war, dann sorgte sie dafür, dass die betreffende Person ihren Job nicht lange behielt.
Das gehörte für sie grundsätzlich dazu, wenn man ein strenges Regime führte. Am Krankenhaus war jeder Mitarbeiter Teil eines Teams, und alle mussten miteinander auskommen. Jeder, der nicht dazu passte, musste gehen. In den sechs Jahren, die sie am Krankenhaus war, hatte sie nur drei Mitarbeiter entlassen müssen, und das hatte sie so geschickt bewerkstelligt, dass sie nicht einmal mitbekommen hatten, dass sie den Verlust ihrer Stelle ihr zu verdanken hatten.
Sue starrte ihr Spiegelbild an. Wie zur Hölle hatte sie gestern Abend nur so dumm sein können? Ja, dumm war genau der richtige Ausdruck dafür. Jetzt war Dr. Simon Pearce, ihr Boss, wütend auf sie. Stinksauer wegen dem, was sie zu seiner Frau gesagt hatte. Gott, warum konnte sie ihr Mundwerk nicht unter Kontrolle halten? Es war fast, als ob es ein Eigenleben führte.
Sie steckte den Stöpsel ins Waschbecken und drehte das kalte Wasser an. Als das Becken halb voll war, spritzte sie sich das Wasser mehrere Male über das Gesicht und erschauderte, als die Kälte durch die drei Hautschichten bis in ihr Gehirn drang. Sie unterdrückte ein schmerzliches Stöhnen, da die Kopfschmerzen sofort intensiver wurden. Geschieht dir recht, du dumme Kuh! Wieder schüttelte sie in fast masochistischer Selbstbestrafung heftig den Kopf über ihre Dummheit.
Normalerweise war sie die personifizierte Disziplin. Als Oberschwester der einzigen größeren medizinischen Einrichtung auf der Insel musste sie das auch sein. Aber sie war sich selbst gegenüber ehrlich genug, um einzugestehen, dass sie einen Charakterfehler geerbt hatte, im Grunde genommen sogar mehrere. Wenn sie trank, richtig trank, dann löste sich alles, einschließlich ihrer Zunge, und sie plapperte aus, was immer ihr gerade in den Sinn kam. Viele Leute hielten sie für eine Art Kontrollfreak, und tief im Inneren hatte sie Angst, in Norfolk nicht mehr weiterzukommen. Nein. Verdammt, sie konnte noch mehr erreichen … und sie würde es auch!
Ihre Gedanken kehrten zu ihrem Boss zurück. Simon würde sie heute in Stücke reißen. Sie schloss die Augen, und vor ihren geschlossenen Lidern tanzte Jessicas Gesicht. Ein leises, zynisches Lächeln umspielte ihre schmalen Lippen. Jessica Pearce war nicht schnell oder clever genug gewesen, um den Schmerz zu verbergen, als sie sie als verrückt bezeichnet hatte. Die Frau war mental labil und kämpfte mühsam um Selbstbeherrschung. Das war für jeden deutlich erkennbar, der nur halbwegs genau hinsehen konnte.
Sue griff in die Duschkabine und stellte das Wasser an. Wenn sie schlau war, würde sie sich krank melden, was sie genau gesehen ja auch war. Aber das würde die unvermeidliche Begegnung mit Simon nur hinauszögern. Also war es besser, es so schnell wie möglich hinter sich zu bringen. Sie ging unter die Dusche und hielt das Gesicht dem sprudelnden Duschkopf entgegen.
Sie konnte nur hoffen, dass sie ihre Beziehung zu Simon nicht dauerhaft geschädigt hatte. Bisher hatten sie gut angefangen. Irgendwie musste sie es schaffen, dass er wieder eine gute Meinung von ihr hatte. Das war für die Arbeit im Krankenhaus und vor allem für sie selber wichtig. Simon hatte Einfluss, er kannte Leute in der Medizin, die ihr in ihrer weiteren Karriere hilfreich sein konnten, und sie wollte verdammt sein, wenn sie sich die Gelegenheit einer solchen Verbindung durch die Finger gleiten ließ. Sie war bereit, die Insel für größere Dinge zu
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