Das Lied der roten Steine: Australien-Saga (German Edition)
Abendessen gekommen war. Das bedeutete, dass sie seit Stunden getrunken hatte. Als Amateurin musste sie lange gebraucht haben, um eine halbe Flasche Cognac zu leeren.
Er machte sich eine zweite Tasse Kaffee, inspizierte erneut den Kühlschrank und fand ein Stück Apfelkuchen, das er dazu aß, und grübelte weiter darüber nach, was Jessicas Rückfall verursacht haben könnte. Dabei wanderte er in den Wintergarten hinaus. Er hatte gedacht, sie sei glücklich, dass sie ein gewisses Maß an Zufriedenheit gefunden hatte, was hauptsächlich durch ihre Malerei und die Freundschaft mit Nan Duncan zustande kam. Er hatte gehofft, gebetet, dass die schlimmen Tage hinter ihnen lagen, und doch … Es schien, dass es Zeiten gab, in denen sie strauchelte und zurückgeworfen wurde.
Nur gut, dass sie sich dagegen entschieden hatten, weitere Kinder zu bekommen. Er seufzte tief. Es klang sehr enttäuscht. Obwohl er sich bemühte, nicht unloyal zu werden, war ein kleiner Teil von ihm der Meinung, dass sie nie wieder so werden würde wie früher. Nikko hatte so etwas angedeutet, ohne es klar auszusprechen. Er fuhr sich mit der Hand über die Augen und versuchte, sich selber Hoffnung zu machen, dass Jess irgendwann wieder ganz gesund würde. Die sechs Monate hier auf Norfolk Island mussten ausreichen, sie mussten! Er hatte die Idee, hierher zu kommen, nur befürwortet, weil es für alle Beteiligten schien, dass er damit das Richtige für sie tat. Und gleichzeitig, weil er gedacht hatte, dass es wirklich reichen würde, in diesen Monaten zur Normalität zurückzufinden. Aber nach dem heutigen Tag war er sich da nicht mehr so sicher … Er war sich bei überhaupt nichts mehr sicher.
Manchmal war das Warten schmerzhaft. Es drängte ihn, nach Perth zurückzukehren, um an seinem Projekt weiterzuarbeiten. Aber jetzt saß er hier fest, bis die Zeit um war, und er konnte nur hoffen, dass sie tatsächlich ausreichte.
Während er so im Dunkeln stand und aus dem Fenster in die Nacht sah, kam ihm ein guter Gedanke. Was, wenn Jessicas Rückfall etwas mit ihren Bildern zu tun hatte?
Neugierig ging er zur Tür und schaltete das Licht ein. Er schaute zur Staffelei, auf der er das fertige Bild der Anson Bay zu sehen erwartete …
Mein Gott, was hatte Jessica getan?
8
imon verschüttete vor Schreck seinen Kaffee auf dem Holzfußboden, doch er beachtete es gar nicht, ging zur Staffelei, blinzelnd, unfähig zu glauben, was er sah. Seine freie Hand griff in die Hemdtasche nach seiner Brille. Er setzte sie auf, um Jessicas Gemälde zu studieren.
Das Bild von der Anson Bay war zerstört worden.
Über der Szene in gedämpften Grün- und Pastelltönen waren in schwarzer und grauer Farbe – mit kühnen Strichen, so fest, dass sie das Papier an einigen Stellen zerrissen hatten – die Gesichter von vier Männern gezeichnet worden.
Simon sah sie an, bis seine Augen schmerzten. Was zum Teufel war nur über Jessica gekommen?
Sie hatte die Gesichter der Männer über das Aquarell gezeichnet und damit das schöne Werk, möglicherweise ihr bislang bestes, ruiniert. Er versuchte, es zu verstehen, aber er fand keine Erklärung dafür.
Die harten Striche, der Zorn, der sich in den Linien mitteilte, die verzerrten, gierigen Ausdrücke in dreien der vier Gesichter überstiegen seine Vorstellungskraft. Eingehend betrachtete er die vier Gesichter. Sie hatten alle grobe Züge und langes, ziemlich wirres Haar. Nicht die Gesichter von typischen Touristen, die man auf Norfolk Island traf. Die Gesichter mit dem harten Ausdruck schienen alle aus einer anderen Zeit zu stammen. Interessanterweise war das dominanteste Gesicht sehr detailliert gezeichnet, von dem verwahr losten Haarschnitt bis zur waagerechten Narbe auf der Wange, dem drohenden Blick und dem grausam verzerrten Mund. Auch der Hals und ein Teil der Schultern waren sichtbar, gekleidet in eine Art Uniform, eine Soldatenuniform. Die anderen drei Gesichter waren nur in groben, schwungvollen Zügen dargestellt, sie sollten wahrscheinlich zu einem späteren Zeitpunkt fertig gestellt werden.
Kopfschüttelnd, völlig verwirrt und beunruhigt durch den Anblick hielt er inne, bis ihm der Gedanke kam: Es sah aus wie das Werk einer Verrückten!
War das – was sie dem Gemälde angetan hatte – der Grund dafür, dass Jessica die Cognacflasche halb geleert hatte? Aber … was hatte sie eigentlich dazu veranlasst, das Gemälde zu zerstören, indem sie die Gesichter von vier Männern darübermalte?
Nur seine Frau
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