Das Lied der roten Steine: Australien-Saga (German Edition)
konnte diese Frage beantworten, und er wusste, dass er keine Ruhe haben würde, bis er verstand, was sie zu so einem für sie völlig untypischen Verhalten geführt hatte.
Sie kam durch das Schlafzimmerfenster. Kurz verweilte sie an Jessicas Bett und betrachtete sie. Die Frau hatte heute Nachmittag wie wild gearbeitet, und der Cognac war eine notwendige Erleichterung gewesen. Der Gedanke an den leckeren Alkohol, den sie sie trinken sah, bis sie bewusstlos wurde, ließ sie sich die Lippen mit der Zunge befeuchten. Sie selbst hatte gerne den einen oder anderen guten Tropfen getrunken, und es war eines der Dinge, die sie schmerzlich vermisste, seit …
Sie riss sich zusammen und glitt leise durch das teilweise dunkle Haus, bis sie den Mann im Wintergarten sah, der das Tageswerk betrachtete. Die Anspannung um seinen Mund und wie tief er die Hände in die Hosentaschen geschoben hatte, zeigten ihr, dass ihn das, was er sah, mehr als nur ein wenig verwirrte. Sie heftete ihren Blick auf ihn. Hoffentlich war er kein allzu großes Hindernis bei ihrer Aufgabe mit Jessica. Wenn ja, dann würde es ihm schlecht ergehen, wenn er sich einmischte …
Sie bewegte sich so, dass sie schräg hinter ihm stand, damit sie das Bild ebenfalls sehen konnte. Während sie es betrachtete, fuhr sie sich mit der Hand leicht durch das hüftlange, kupferfarbene Haar und schob es zurecht. Dann nestelte sie an dem Tuch um ihren Hals und strich es glatt, bis sie damit zufrieden war. Ja, es war ein schönes Stück Arbeit …
Sie war stolz darauf, Jessica geholfen zu haben, es zu malen, nur dass ihr Protegé gar nicht gewusst hatte, dass sie den Pinsel führte, bis das Werk fertig war. Dann war sie irgendwie durchgedreht und hatte zur Flasche gegriffen. Nun, sie würde sich daran gewöhnen müssen, ihren Befehlen zu gehorchen. Es war notwendig, und sie würde nicht weich werden, denn sie brauchte die Hilfe dieser Frau.
Ihr Blick blieb an dem letzten Gesicht hängen, dem unvollendeten Porträt des jungen Timothy Cavanagh. Ungeduldig unterdrückte sie das erste Anzeichen von Mitleid, das ihr die Feuchtigkeit in die Augen trieb. Lautlos lachte sie harsch über ihren momentanen Fehler. Wie dumm sie war! Alles Mitleid war vor langer Zeit verflogen. Ihr Blick wanderte zu der ersten Gestalt und heftete sich auf dieses Gesicht.
Tief sitzender Hass loderte in ihren blauen Augen auf, und eine Ader an ihrer Schläfe klopfte im Rhythmus zu dem Zorn, der in ihr aufstieg, wann immer sie an ihn dachte. Es war eine gute Darstellung des Teufels, denn er war der Anführer der anderen drei gewesen. Die anderen waren lediglich rückgratlose Narren gewesen, die seine Befehle ausgeführt hatten. Ja, eine Träne stieg ihr in die Augen, als sie die Erinnerungen überkamen. Wenn dieser Teufel Elijah Waugh nicht an diesem schönen, sonnigen Tag ihren Weg gekreuzt hätte, dann wäre ihr, Sarah Flynns Leben, ganz anders verlaufen …
9
1849
in feuchter, salziger Wind vom Meer her strich Sarah über das Gesicht, als sie auf der Schwelle zu Ma Hingertys Pension in der Canal Lane stand, um ihren Hut zu richten und sich dann das Cape um die Schultern zu ziehen. Sie sah, wie sich der Nebel über den Docks hob und die hohen Masten mehrerer Schiffe sichtbar wurden. Die Wimpel flatterten unheimlich im grauen Dunst. Aus Erfahrung wusste sie, dass es ein schöner Tag werden würde, zumindest eine Zeit lang. Im Frühling war das Wetter in Dublin häufig wechselhaft, hatte sie gelernt, da sie seit ihrem elften Lebensjahr in der Stadt lebte.
Die Schritte ihrer praktischen, hochgeschnürten Arbeitsstiefel hallten auf den Pflastersteinen wider, während sie über die Queen Street lief, die zu beiden Seiten entlang des Liffey zum Hafengelände führte. Trotz der frühen Stunde waren schon viele Leute unterwegs, um ihre Morgenarbeiten zu verrichteten. Der Laternenanzünder, der die Lichter in der Straße löschte, grüßte den Metzger, der einen Weidenkorb voller Kadaverteile zum Hackklotz brachte.
Ein paar Straßenkinder spielten so lautstark Himmel und Hölle, dass sich eine Putzfrau dazu veranlasst sah, sie zur Ruhe zu mahnen, und Arbeiter wie sie selbst, die von sechs Uhr in der Frühe bis um sechs Uhr abends arbeiteten, strebten zu ihren jeweiligen Zielen in der Nähe des Wassers.
Bridget Muir, mit der sie sich bei Ma Hingerty ein Zimmer teilte, hätte sie eigentlich begleiten sollen, da sie beide denselben Arbeitgeber hatten: »Seamus O'Toole, Schiffsausrüster«. Doch
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