Das Lied der roten Steine: Australien-Saga (German Edition)
der Hitze des Tages entspannte, Geräusche, die ihn jedes Mal an seine Kindheit auf der Farm bei York erinnerten, begrüßten ihn. Er schaltete das Licht an. Eine halbe Minute lang, während er schnell die Post auf dem Beistelltisch durchsah, bemerkte er die zusammengekauerte Person in der Ecke des Sofas gar nicht. Da er einen scharfen Geruchssinn hatte, stellte er enttäuscht fest, dass er keine appetitlichen Gerüche aus der Küche wahrnehmen konnte. Und doch … da war ein Geruch.
Seine Nüstern weiteten sich, als er tief einatmete. Alkohol! Dann sah er sie.
»Jess!«
Sie reagierte nicht, schien ihn nicht gehört zu haben. Wie sie dalag – in der klassischen fötalen Lage –, während er zu ihr hinüberging und sich neben sie setzte, beunruhigte ihn. Der Raum stank nach Alkohol. Er sah ein leeres Glas und die Flasche Napoleon Brandy, die er letzte Woche gekauft hatte. Sie war halb leer.
Jesus, was ging hier vor? Seine Augen verengten sich zu Schlitzen, als er ihre geröteten Wangen sah, ihr wirres Haar, ihr Gesicht ohne jedes Make-up. Verdammt, hatte sie eine Art Rückfall? Besorgt legte er ihr den Zeigefinger an die Halsschlagader und fühlte ihren Puls kräftig schlagen. Er schüttelte sie an der Schulter. Keine Reaktion.
»Jessica!« Diesmal klang seine Stimme lauter und ein wenig ungeduldig.
Sie bewegte sich kurz, öffnete ein trübes Auge, seufzte und schloss es gleich wieder.
Simon rieb sich gedankenverloren das Kinn. Er verstand sie nicht. Jessica trank nicht. Nun, gelegentlich trank sie in Gesellschaft, höchstens zwei oder drei Gläser am Abend, aber mehr nie. Niemals hatte sie zur Flasche gegriffen und eine halbe Flasche Cognac geleert. Kein Wunder, dass sie fast bewusstlos war. Zusammen mit dem Rest des Valiums, das er ihr gegeben hatte, reichte der Cognac aus, um mehrere Leute einzuschläfern. Meine Güte, wusste sie nicht, dass sich die beiden Dinge nicht vertrugen? Aber warum? Er rieb sich das Haar an den Schläfen. Warum?
»Jessica, kannst du mich hören?«
Abermals öffnete sie die Augen, versuchte zu sprechen, brachte aber nur unzusammenhängendes Murmeln hervor.
Er zog sie in eine sitzende Position, stellte ihre Füße auf den Boden und legte ihre Hände in den Schoß. Ihr Kopf rollte auf die Seite wie bei einer Puppe. Es musste etwas Ernsthaftes passiert sein, dass sie sich so benahm, sagte er sich, aber er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, was. Plötzlich hob sie den Kopf und öffnete die Augen.
»Simon. Oh, Simon«, lallte sie, und dann begannen ihre die Tränen über die Wangen zu laufen.
»Was ist los, Jess? Erzähl es mir!« Er nahm ihre Hand in seine, um sie zum Weiterreden zu ermutigen.
»Oh, es ist schrecklich! Ich kann es nicht glauben …« Ihre Augenlider senkten sich, schlossen sich und öffneten sich wieder. Sie brauchte eine Weile, bis sie hervorbrachte: »Ich verstehe das nicht!«
»Was verstehst du nicht, meine Liebe?« Sie antwortete nicht. Er stieß einen enttäuschten Seufzer aus. Es war schlimmer, als mit einem Kleinkind zu reden. Sie hatte so viel getrunken, dass sie nicht klar sehen konnte, und ihr Kopf weigerte sich schlicht, zu funktionieren. Die einzige Lösung war das Bett. Obwohl er sich nicht vorstellen konnte, was sie getan hatte, musste er akzeptieren, dass er nur warten konnte, bis sie ihren Rausch ausgeschlafen hatte.
Es war nicht leicht, Jessicas leblose Gestalt hochzuheben, doch mit ein paar Flüchen und etwas Ächzen schaffte er es, sie ins Bett zu bringen. Er zog ihr die Schuhe aus, bevor er sie zudeckte. Eine Weile stand er am Fußende des Bettes, betrachtete sie, und dabei hatte er eine Art Déjà-vu. Er erinnerte sich, dass er bei ihrer Einlieferung ins Sanatorium genauso dagestanden hatte. Doch nun sah sie anders aus, friedlich wie ein Engel, ihr kastanienbraunes Haar auf dem Kissen ausgebreitet, ihre Züge entspannt.
Er schüttelte indigniert den Kopf, dann knipste er das Licht aus und ging in die Küche, um sich etwas zu essen zu bereiten.
Ein Spiegelei auf Toast mit Käse überbacken und eine Tasse Kaffee waren das Beste, was Simon einfiel. Er musste grinsen, als er daran dachte, was Jessica wohl zu dieser Wahl gesagt hätte, aber was soll's? Während er in der Küche sein einsames Mahl aß, kam er zu dem Schluss, dass, was auch immer Jessica bewogen hatte, zur Flasche zu greifen – wahrscheinlich Erinnerungen an Damian und dann ein schwerer Anfall von Depression – geschehen war, bevor ihr überhaupt der Gedanke ans
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