Das Lied der schwarzen Berge
geirrt, die es in Europa gibt, völlig allein, über schwindelnde Felspfade fahrend, durch finstere Schluchten und flache Bergbäche, nur der Sonne nach, ohne Karte, ohne zu wissen, wo Zabari lag … sie hatte in den eisigen Nächten nur mit drei dünnen Decken geschlafen und hatte sich jede Stunde um den Wagen herum warmgelaufen – drei Nächte lang, bis sie schmutzig, zerrissen, einem Vagabunden gleich, in Zabari ankam. Die elegante Elena, der niemand eine solche Tat zugetraut hätte.
Ob Zabari wirklich abschreckend wirkte? Ob die Einsamkeit und die Rauheit der Umgebung sie wirklich zurücktrieb in die Eleganz Zagrebs und die weiße Villa Osiks am Ufer der Sava? Meerholdt wagte es in diesem Augenblick zu bezweifeln. Er beschloß, alles dem Zufall zu überlassen, der Zeit, die mit ihm war, und den Umständen, die das Schicksal vielleicht zusammenkettete oder entflocht …
Hinter ihm klappte die Tür. Er drehte sich nicht um, er wußte, wer ins Zimmer gekommen war.
»Er ist weg«, sagte Elena leise. »Wir sind endlich allein …« Da er keine Antwort gab, kam sie näher und legte den Arm um seinen Hals. Sie drückte ihren Kopf an seine Wange und sah neben ihm aus dem Fenster. So bemerkte sie Rosa von der Ecke der Küchenbaracke aus und ballte die Hände zur Faust. »Freust du dich gar nicht, Sascha …?«
»Doch, sehr …« Er lächelte sie an, und in ihrem Glück sah sie nicht seine Lüge und hörte sie nicht den dumpfen Klang seiner Stimme.
»Hast du mit Vater gesprochen?« fragte sie.
»Ja.«
»Über uns, Sascha …«
»Auch. Aber meistens über technische Probleme.«
»Und was sagte er über uns?«
»Er will es der Zeit überlassen«, wich er aus. »Er will sehen, wie sich alles entwickelt. Erst der Bau – dann das Privatleben, hat er gesagt, und ich habe ihm diese Abstufung unseres Lebens in die Hand versprechen müssen«, log er geschickt.
Elena nickte. Dabei rieb ihre Wange an der seinen … es war eine Liebkosung, die ihn wie ein Peitschenschlag durchzuckte. Er beugte sich zurück und trat vom Fenster weg. Unruhig ging er im Zimmer hin und her.
»Ich werde wenig Zeit für dich haben«, sagte er dabei und vermied es, sie anzusehen. »Bis zum Einbruch des neuen Winters wollen wir die Staumauer soweit fertig haben, daß wir die Schmelzwasser der kommenden Schneeschmelze bereits auffangen können und so das Becken schnell gefüllt bekommen. Das bedeutet Tag und Nacht Arbeit! Keine Ruhe, keine Ablenkung! Die Brücken über das Tal müssen gelegt werden, die Straße nach Foca muß ausgebaut werden, der Erdwall am anderen Talausgang muß erhöht und mit einem Betonkern ausgegossen werden, die Turbinenhäuser warten auf die Montage – wir bekommen sie in Bauelementen halbfertig von Belgrad! Es wird eine schwere Zeit für dich sein, Elena.«
»Wenn sie nicht zu schwer für dich ist, werde ich sie auch ertragen können!« Sie ergriff eine Schachtel mit Zigaretten, die auf dem Tisch lag, und steckte sich eine an. Ihre Fingernägel waren wieder manikürt und leicht rot getönt, mit dem Perlmutterlack, den sie so liebte und der ihre Nägel schillern ließ, wenn die Sonne darauf fiel. Welcher Gegensatz zu Rosa! Welche Entfernung ihrer Welten … es war, als läge das All mit sämtlichen Sternen zwischen ihnen, als seien sie Sterne, deren Licht sich im weiten Raum nie treffen konnten und würden.
Ralf Meerholdt nahm einen Mantel vom Haken und warf ihn über die Schulter. Nachdem der Morgen sonnig begonnen hatte, stieg jetzt aus den Tälern Nebel die Felsen empor … die nasse Erde dampfte unter den plötzlichen warmen Strahlen, der Bergwald wurde umgaukelt von weißen Wolken, die sich in der Sonne auflösten zu einem Flimmern, das im Blau des Himmels verschwand.
»Du willst zu den Baustellen?« fragte sie. Sie drückte die eben angerauchte Zigarette aus.
»Ja. Meine Leute warten auf die neuen Detailpläne.«
»Ich gehe mit.«
»Das geht nicht!« Er nahm einen Stapel Papier und große zusammengerollte Lichtpausen vom Tisch und klemmte sie unter den Arm. »Ich muß zu den schmutzigsten Stellen – und außerdem ist es zu gefährlich für dich. Vor allem aber will ich nicht, daß die Arbeiter dich sehen … sie leben seit fast einem Jahr allein und ohne Frauen in dieser Wildnis. Es wäre unfair ihnen gegenüber, auf die ich genauso angewiesen bin wie sie auf mich, wenn ich jetzt mit einer Frau erschiene und zeigte: Seht, mir geht es besser als euch! Ich habe ein Mädchen bei mir! Wir sind hier alle
Weitere Kostenlose Bücher