Das Lied der schwarzen Berge
helfen?«
»Ja.«
Bonelli hob beide Hände und schlug sie gegeneinander. »Womit, Rosa?«
Sie stockte und sah ihn aus ihren großen, schwarzen Augen ängstlich und hilflos an. »Bist du auch nicht böse, wenn ich es sage?«
»Aber nein. Wie kann ich dir helfen?«
»Leih mir die Kleider von Katja«, sagte sie leise. Sie wagte nicht, Bonelli dabei anzusehen. Pietro schwieg eine Weile betroffen. Die Kleider Katjas? Die verfluchten Pakete, die bei ihm in der Ecke lagen und verstaubten? Er wußte selbst nicht, was sie alles enthielten … er hatte an ein Geschäft in Sarajewo geschrieben und eine vollkommene Frauenausstattung bestellt mit vier Kleidern und dem dazugehörenden ›Unterzeug‹, wie es Bonelli respektlos vor den zarten Gebilden weiblichen Dessous nannte. Ein wenig Neugier beschlich ihn doch, zumal er an Rosa sehen konnte, wie es bei Katja wirken würde.
»Komm mit!« sagte er. »Aber verrate niemandem, von wem du die Sachen hast! Verstanden?«
Wie Verschwörer verschwanden sie in der Stube Bonellis und schlossen hinter sich die Tür ab. Dann knisterte Papier, und ein staunendes »Ah« drang durch die Tür …
Gegen Mittag traf auch Stanis Osik in Zabari ein. Er fuhr einen schweren Reisewagen und brauste durch die staubige Dorfstraße direkt auf das Barackenlager zu. Die Arbeiter, die ihm begegneten, zogen die Hüte und Mützen, die Bauern standen wie immer am Wege und bestaunten den großen, blitzenden Wagen.
Osik fuhr geradenwegs vor die große Baracke Meerholdts und sprang aus dem Wagen. Er rannte ins Haus und prallte auf einen der Techniker, der erschreckt zur Seite wich.
»Wo ist Herr Meerholdt?« keuchte Osik. »Wo ist meine Tochter?!«
»Der Herr Ingenieur und das gnädige Fräulein sind auf der Baustelle. Herr Meerholdt zeigt ihr das Werk.«
Stanis Osik wandte sich um und rannte zurück. Ein Lastwagen, der vorüberfuhr, bremste scharf, weil sich Osik mitten auf die Straße stellte. Der Fahrer schrie aus dem Fenster:
»Idiot! Aus dem Wege! Wer ist dieses Riesenrindvieh?! Stellt sich mitten auf die Straße!«
Stanis Osik sprang auf das Trittbrett und schob mit seiner großen, fleischigen Hand den Kopf des Fahrers in das Führerhaus des Autos zurück.
»Fahr weiter!« brüllte er den sprachlosen Mann an. »Zum Wall!«
»Aber ich muß doch zum Materiallager.«
»Zum Wall, du Hornochse – oder du fliegst sofort!«
Der Fahrer schaltete den Gang ein und brauste weiter, machte eine Kurve und ratterte auf das Tal zu. Osik hielt sich am Fensterrahmen und am Rückspiegel fest und sah das gigantische Bauwerk näher und näher kommen. Zum erstenmal sah er selbst die Bauten, die er bisher nur von den Plänen und einigen Fotos her kannte. Die Größe, die gewaltigen Ausmaße, dieser stein- und eisengewordene Gedanke eines Genies erfaßte auch ihn mit Bewunderung und einer ihm fremden Ergriffenheit. Er starrte ins Tal hinab, über die Steinmauer, die Verschalungen, die Betonplanierungen, die Hallen, die unten am Wall begannen, er erkannte die ungeheure Umwandlung der Natur nach dem Willen eines einzigen Menschen und wurde schweigsam.
Auf einer halbfertigen Brücke, die einen Teil des Tales überspannte, erkannte er Elena an der Seite Meerholdts und des Vorarbeiters Drago Sopje. Sie standen in schwindelnder Höhe an einem Eisengitter und blickten hinab in das geplante Staubecken. Osik ließ den Wagen halten. »Weißt du, wer ich bin?« fragte er den Fahrer. Dieser schüttelte den Kopf.
»Nein. Auf jeden Fall ein Verrückter …«
Ehe Osik etwas antworten konnte, hatte er den Wagen gedreht und ratterte in Richtung auf das Materiallager davon. Wütend stapfte Osik durch den aufgerissenen Boden, über Kalkgruben, Lehmhalden und Knüppeldämme der Brücke zu. Er betrat gerade das Eisengerüst, als Elena ihn bemerkte und Meerholdt am Arm herumriß.
»Mein Vater!« schrie sie leise auf.
Meerholdt nickte. Eine schwere Last fiel von ihm ab. Wie einer Erlösung sah er Osik entgegen.
»Woher weiß er, daß ich hier bin?« sagte Elena und umklammerte seinen Arm.
»Er hat es angenommen! Wohin solltest du schon geflüchtet sein?«
»Er kommt mich holen, Sascha. Er wird mich schlagen, mich einsperren, mich wieder wegschicken in andere Länder. Schütze mich, Sascha … schütze mich.« Sie drängte sich an ihn und wandte den Kopf weg.
Stanis Osik schnaufte von der schnellen Fahrt und der ungewohnten Kletterei. Er hielt sich an dem eisernen Geländer fest und blieb stehen. Er wagte nicht, hinab in die
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