Das Lied der schwarzen Berge
das gesamte Militär war aufgeboten und durchkämmte die Felsen und Schluchten.
Sie fanden Jossip nicht. Sie entdeckten auch nicht seine Hütte. Mit dem Augenblick, in dem ihn Meerholdt den Hang hinabwarf, war er verschwunden. Die besten Kletterer der Gebirgsjäger fanden zwar den Busch, an den er sich angeklammert hatte … die Steine waren um ihn herum mit Blut verschmiert, auch an dem Astwerk klebte Blut. Von da ab hörte jede Spur auf.
Rosa hatte man in Ralfs Haus getragen. Ein Arzt, der sofort aus Titograd geholt wurde und in der nächsten Nacht mit einem Sonderwagen eintraf, untersuchte sie eingehend.
Er blieb lange in dem Zimmer hinter dem Zeichenraum, das Meerholdt als Krankenstube eingerichtet hatte. Es roch nach Karbol und Äther, als sich die Tür öffnete und der weiße Kittel des Arztes im Licht der starken Lampen leuchtete.
Meerholdt hatte die ganze Zeit über in einem Sessel gehockt und auf die Uhr gesehen. Zehn Minuten … zwanzig … eine halbe Stunde … Die Angst schnürte ihm die Kehle zu. Durch die dünne Tür hörte er das Klappern von Instrumenten und das leise Stöhnen Rosas.
Hauptmann Vrana schob ihm einen Kognak zu, er schüttelte den Kopf und stützte ihn dann in die Hände.
Vierzig Minuten … Er erhob sich und wanderte unruhig in der großen Stube hin und her. Jossip hat sie zu Tode getreten, durchfuhr es ihn. Er hat sie innerlich so verletzt, daß sie stirbt … Er schloß die Augen und drückte die heiße Stirn gegen das kühle Fensterglas. Das Gefühl, ein Stück seines Lebens läge sterbend nebenan im Zimmer, überwältigte ihn. Wie tief ich ihr verbunden bin, dachte er glücklich. Wie gemeinsam wir schon empfinden, wie eng verwachsen unsere Seelen sind.
Jetzt öffnete sich die Tür, und der Arzt erschien. Meerholdt fuhr herum … in seinen Augen stand die große Frage. Doch über seine Lippen kam kein Ton … er spürte, wie die Angst vor einem Nein ihm die Kehle zuschnürte.
»Oberhalb des linken Beckens hat sie eine schwere Prellung.« Der Arzt zog sich einen Stuhl heran und setzte sich. »Ein Bluterguß hat sich gebildet, der sich nach innen fortsetzt. Wir müssen abwarten, wie er sich verhält. Schlimmer scheint mir, daß die beiden unteren Rippen angeknickt sind. Sie muß einen fürchterlichen Tritt bekommen haben.« Der Arzt nahm eine Zigarette, die Hauptmann Vrana ihm hinreichte, und rauchte sie mit hastigen Zügen an. »Außerdem hat sie einen Nervenschock bekommen … Ihre tiefe Ohnmacht wird noch anhalten.«
Meerholdt atmete auf. »Es besteht keine Lebensgefahr?« fragte er leise.
Der Arzt schüttelte den Kopf. »Akute nicht. Noch wissen wir nicht, wie sich das Herz verhält, wenn die Ohnmacht länger dauert. Sie hat ein starkes Herz … aber gerade ein Herz ist unberechenbar! Wir werden ihr Kräftigungsmittel und Kreislaufanreger geben müssen.«
»Und die angeknickten Rippen?«
»Sie muß absolute Ruhe haben! Ich habe eine Bandage angelegt. Am besten wäre es, wenn sie nach dem Erwachen aus der Ohnmacht nach Titograd oder Sarajewo in eine Klinik käme, wo man sie durchleuchten kann.«
»Ich werde sofort einen Krankenwagen aus Sarajewo anfordern«, versicherte Hauptmann Vrana.
Der Arzt erhob sich. »Das ist im Augenblick alles, was ich tun kann. Haben Sie ein Mädchen, das die Patientin pflegen kann?«
»Ja.« Meerholdt dachte an Katja Dobor, die draußen vor dem Haus stand und weinte. Bonelli hatte sie umfaßt und kämpfte ebenfalls mit den Tränen.
»Jossip«, sagte er und schüttelte wieder den Kopf. »Und Elena Osik hat er auch umgebracht! Mamma mia – die Welt ist nicht wert, daß die Sonne sie bescheint!«
Der Arzt kam mit Meerholdt und Vrana aus dem Haus. Katja und Bonelli schoben sich nach vorn.
»Wird sie weiterleben?« stammelte Bonelli. Er versuchte, hart zu sein, aber beim Anblick des Arztes begann er zu schluchzen. Meerholdt legte den Arm um seine Schulter.
»Wir hoffen es, Pietro. Wir wollen Gott darum bitten. Katja soll sie pflegen.«
Katja Dobor ging weinend in das Haus. Der Arzt blieb noch ein paar Tage im Lager, er wollte den Abtransport Rosas überwachen. Hauptmann Vrana setzte seine Suche nach Jossip fort.
In seiner Hütte hockte Fedor Suhaja am Herd und schnitt den Blatt-Tabak zu langen, dünnen Streifen. Ein Tonbecher mit Schafsmilch stand neben ihm, denn das Schneiden des trockenen Tabaks dörrte die Kehle aus und kitzelte im Hals.
»Es war Jossip«, sagte er. »Er hat das fremde Mädchen getötet und wollte Rosa töten. Sein
Weitere Kostenlose Bücher