Das Lied der Sirenen
Augen und zitierte aus dem Gedächtnis: »Bei den meisten Serienmördern ist es so, daß der zeitliche Abstand zwischen den Morden dramatisch schrumpft. Es sind vor allem ihre Phantasievorstellungen, die die Morde auslösen, und die Realität hält mit diesen Phantasien nicht Schritt, wie sehr sie die Prozeduren bei den Morden auch verfeinern. Aber je extremer diese werden, um so abgestumpfter wird ihr Empfindungsvermögen, und sie brauchen immer mehr Stimulationen, den sexuellen Kick zu erreichen, den das Morden ihnen vermittelt. Die Morde müssen also in immer kürzeren Abständen begangen werden. Shakespeare hat es so ausgedrückt: ›Als ob der größ’re Appetit erwachsen sei aus dem, mit dem man ihn gefüttert.‹ Habe ich recht?«
»Bemerkenswert«, murmelte Tony. »Können Sie konkreter ausdrücken, was Sie meinen, oder ist es nur so eine Ahnung?«
»Zunächst mal nur eine Ahnung, fürchte ich. Jedenfalls, als ich im Profil die Stelle las, an der Sie die Vermutung äußern, er könne beruflich mit Computern zu tun haben, hat es bei mir geklickt. Die Frage, die Sie nicht direkt formuliert haben, die Sie aber offensichtlich quält, ist doch die, warum seine Videos mit der Zeit nicht nachlassen, den Ansprüchen seiner Phantasievorstellungen zu genügen, nicht wahr?«
Tony nickte. Sie hatte da einen wichtigen Punkt angesprochen, und genau er war es, der ihm Kopfzerbrechen bereitete. Er suchte nach einer Antwort, die sie beide zufriedenstellen konnte. Doch noch ehe er eine befriedigende Lösung gefunden hatte, sagte er:
»Nehmen wir einmal an, nur so als eine Möglichkeit, daß das erste Video es vermochte, ihn zwölf Wochen lang stabil zu halten. Aber er hatte schon in die Wege geleitet, sich sein zweites Opfer zu schnappen, und die günstige Gelegenheit, das zu tun, kam früher, als es der Zwang zum Morden erforderte. Er konnte einfach der Chance, die sich ihm bot, nicht widerstehen. Hinterher wurde ihm bewußt, daß er acht Wochen zwischen den Morden hatte verstreichen lassen, und er entschloß sich, von nun an diese acht Wochen einzuhalten, sozusagen als sein persönliches Mordmuster. Bis jetzt haben ihm die Videos erlaubt, diese Zeitspanne einzuhalten. Vielleicht wird sich das aber ändern.«
Carol schüttelte den Kopf. »Das ist irgendwie plausibel, aber es überzeugt mich nicht.«
Tony grinste. »Gott sei Dank tut es das nicht. Ich bin auch nicht überzeugt davon. Es muß eine bessere Erklärung geben, aber ich rätsel’ noch, welche das sein könnte.«
»Wieviel wissen Sie über Computer?« fragte sie.
»Ich weiß, wo der An-/Ausknopf ist, und ich weiß, wie ich die Software benutzen muß, die ich für meine Arbeit brauche. Bei allem, was darüber hinausgeht, bin ich ein absoluter Ignorant.«
»Nun, dann sind wir ja schon zu zweit. Mein Bruder dagegen ist ein Computergenie. Er ist Partner in einer Firma, die Computerspiele entwickelt. Die Software, an der er arbeitet, ist modernste Spitzentechnologie. Im Moment sind er und sein Partner damit beschäftigt, ein preiswertes System zu entwickeln, das es den Benutzern erlaubt, Bilder von sich selbst in das Spiel, das sie gerade spielen, zu importieren. Mit anderen Worten, anstatt daß Arnie in
Terminator 2
die Bösen reihenweise außer Gefecht setzt, macht das Tony Hill. Oder Carol Jordan. Ausgangspunkt ist, daß es auf dem Markt bereits die Hardware und Software gibt, Videobänder zu scannen und die Bilder in den Computer zu importieren. Ich glaube, sie nennen das ›digitized images‹. Jedenfalls, wenn man das erst einmal im Computer hat, kann man es nach Lust und Laune manipulieren. Es lassen sich auch Fotos oder Ausschnitte aus anderen Videos einspielen oder Dinge überlagernd einblenden. Als sie vor etwa sechs Monaten zum erstenmal die entsprechende Hardware einsetzen konnten, zeigte mir Michael das erste Probeexemplar, das er zusammengestellt hatte. Er hatte Ausschnitte aus einer Parteikonferenz der Konservativen auf Video aufgenommen und sie mit einem Pornovideo kombiniert. Er hatte die Gesichter der Minister aufgezeichnet, während sie ihre Reden hielten, und sie dann auf das Pornovideo übertragen.« Bei der Erinnerung daran lachte Carol prustend los. »Die Szenen waren ein wenig abgehackt, aber glauben Sie mir, Sie haben noch nie Bilder gesehen, auf denen John Major und Margaret Thatcher so prächtig miteinander auskommen. Es hat dem Wort ›fachchinesisch‹ eine ganz neue Bedeutung gegeben.«
Tony starrte Carol verblüfft an. »Sie
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