Das Lied der Sirenen
wollen mich wohl auf den Arm nehmen«, sagte er.
»Keineswegs. Es ist die perfekte Erklärung dafür, warum die Videos es dem Mörder ermöglichen, sich unter Kontrolle zu halten.«
»Würde das denn aber nicht heißen, daß er ein Computergenie sein müßte wie Ihr Bruder?«
»Das glaube ich nicht«, antwortete Carol. »Wie ich das verstanden habe, ist die zugrundeliegende Software einigermaßen einfach. Aber die Software und die benötigte Zusatzausstattung sind unglaublich teuer. Man muß bestimmt zwei- bis dreitausend Pfund für die Software auf den Tisch blättern. Unser Mörder arbeitet also entweder für eine Firma, bei der ihm diese Ausstattung zur Verfügung steht und er die Möglichkeit hat, ungestört an seinen privaten Computerspielchen zu arbeiten, oder aber er ist ein Computerfreak mit hohem Einkommen.«
»Oder ein Dieb«, fügte Tony hinzu, und er meinte es nur zum Teil scherzhaft.
»Oder ein Dieb«, stimmte Carol zu.
»Ich weiß nicht«, sagte Tony zweifelnd. »Es wäre zwar eine Lösung des Problems, aber es ist doch total verrückt.«
»Und Handy Andy ist das nicht?« fragte Carol streitlustig.
»Oh, er ist natürlich verrückt, aber ich zweifle daran, daß er das alles auf einmal ist.«
»Er baut sich Foltergeräte. Das wäre mit einem Computer-Design-Programm viel einfacher für ihn. Tony, irgend etwas hält ihn stabil bei diesem Achtwochenzyklus. Warum nicht das?«
»Es ist eine
Möglichkeit,
Carol, mehr nicht bei diesem Erkenntnisstand. Hören Sie, wieso machen Sie nicht erst einmal ein paar grundsätzliche Untersuchungen über die Realisierbarkeit dieser Sache in der Praxis?«
»Sie wollen das also nicht in das Profil aufnehmen?« fragte Carol, wieder bitter enttäuscht.
»Ich möchte die Dinge, die ich für höchstwahrscheinlich zutreffend halte, nicht mit etwas vermischen, das zum jetzigen Zeitpunkt noch wie ein Versuchsballon aussieht. Wie Sie selbst bemerkten, wurde unsere Diskussion durch eine Aussage im Profil ausgelöst, die noch wenig mehr als den Status der Spekulation hat. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich will Ihre Idee keinesfalls verwerfen. Ich halte sie für brillant. Aber wir müssen verdammt hart daran arbeiten, den Widerstand einiger Leute gegen das Profil insgesamt zu überwinden. Selbst Leute, die die Grundidee der Profilerstellung intensiv unterstützen, werden nicht unbedingt mit einigen seiner Teilaussagen übereinstimmen. Wir dürfen ihnen keine Angriffsfläche bieten. Belassen wir es bei dem, was einigermaßen handgreiflich ist. Wir wollen es ihnen als Geschenk verpackt präsentieren, dann können die Heckenschützen uns nicht so schnell von der Stange schießen. Okay?«
»Okay«, sagte Carol, die zugeben mußte, daß er recht hatte. Sie nahm ein Blatt Papier und einen Stift und fing an, sich Notizen zu machen. »Überprüfen Software-Hersteller und Software-Beratungsfirmen in Bradfield und Umgebung«, murmelte sie beim Schreiben. »Von Michael über Hersteller der erforderlichen Software/Hardware beraten lassen, dann Verkaufsunterlagen der Firmen überprüfen. Diebstähle teurer Software in letzter Zeit bei diesen Firmen?«
»Computer-Clubs«, fügte Tony hinzu.
»Ja, danke.« Carol notierte sich auch das. »Und Mitteilungsblätter der Firmen, Angebote in Fachzeitschriften. O Gott, ich werde dem HOLMES -Team ganz schön auf die Nerven gehen.« Sie stand auf. »Es wartet viel Arbeit auf mich. Ich fange am besten gleich damit an. Ich nehme das Profil mit in die Scargill Street und gebe es Mr.Brandon. Wir werden Sie dann brauchen, um es durchzusprechen.«
»Kein Problem«, sagte Tony.
»Wie schön, daß mal irgendwas kein Problem ist.«
Tony starrte aus dem Fenster der Straßenbahn auf die von einem Regenguß verzerrten Lichter der Stadt. Das Innere des Straßenbahnwagens mit dem weißen Lichtschimmer hatte etwas von einem Kokon an sich – keine Graffiti-Schmierereien, warm, sauber, ein sicherer Aufenthaltsort. Als die Bahn sich einer Ampel näherte, betätigte der Fahrer das Signalhorn. Für Tony klang es wie ein Geräusch aus der Kindheit, wie das Pfeifen eines Zuges aus einem Zeichentrickfilm.
Er wandte sich vom Fenster ab und beobachtete verstohlen die rund zehn anderen Fahrgäste. Nur ja etwas gegen die seltsame Leere tun, die er seit der Fertigstellung des Profils empfand. Aber es sah so aus, als ob sein Einsatz bei diesem Fall noch nicht beendet wäre. Brandon hatte angeordnet, daß Carol ihn jeden Tag einmal treffen und über den Stand
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