Das Lied der Sirenen
ziehen würde. Er durfte mich auf keinen Fall erkennen und mir aus irgendeinem Grund folgen. Außerdem, warum sollte ich es zulassen, daß ein Polizist mich um meine Mittagspause brachte?
Aber ich konnte das flaue Gefühl in der Magengegend nicht unterdrücken, die beklemmende Befürchtung, er könnte mich erkennen und ansprechen. Ich hatte keine Angst vor ihm, doch absolut keine Lust, die Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Glücklicherweise war er in Begleitung von zwei Kollegen, und sie waren so in eine Diskussion vertieft – über mich wahrscheinlich, wie man sich denken kann –, daß sie den anderen Gästen nur wenig Beachtung schenkten. Die Frau kannte ich von Zeitungsfotos – Inspector Carol Jordan. Sie sieht in natura besser aus als auf Fotos, vermutlich auch, weil ihr Haar eine wunderschöne Blondtönung hat. Der Mann war mir fremd, aber ich prägte mir für spätere Fälle sein Gesicht ein. Merrick, der alle übrigen Gäste überragte, hatte einen Verband um den Kopf. Ich fragte mich, wie er dazu gekommen war.
Ich hatte Merrick nie gehaßt, wie ich einige der anderen Polizisten haßte, obwohl er mich mehrfach festgenommen hatte. Er hatte mich nie mit der Verachtung behandelt, wie sie mich einige seiner Kollegen spüren ließen, hatte mich nicht einmal verhöhnt. Aber dennoch mußte ich erkennen, daß er in mir ein bloßes Objekt sah, jemanden, dem kein Respekt gebührte. Er hat nie verstanden, daß es einem bestimmten Zweck diente, wenn ich meinen Körper an Seeleute verkaufte. Aber was auch immer ich damals tat, ist nicht mehr von Bedeutung. Ich bin jetzt anders, ich habe meine Persönlichkeit geändert. Was damals in Seaford geschah, ist so fern wie etwas, das ich im Kino gesehen habe.
Es war auf seltsame Weise aufregend, mich in unmittelbarer Nähe der Polizeibeamten zu befinden, die mich zu überführen versuchten. Ja, es war ein echter Nervenkitzel, nur ein paar Meter von meinen Jägern entfernt zu sein, die nichts von mir als ihrer Beute ahnten. Sie hatten nicht einmal so viel siebten Sinn, daß ihnen das Außergewöhnliche der Situation bewußt wurde, auch nicht Carol Jordan. So viel zur weiblichen Intuition. Ich sah es als einen Test an, als einen Maßstab für die Fähigkeit, meine Verfolger zu täuschen. Die Vorstellung, sie könnten mich überführen, ist einfach absurd, undenkbar.
Ich fühlte mich nach dieser Begegnung so sicher, daß mich die Meldung der Zeitung am nächsten Tag wie ein Schlag mit dem Sandsack traf. Ich ging gerade durch den zentralen Computerraum, als ich die Morgenausgabe der
Sentinel Times
auf dem Schreibtisch eines jungen Operators liegen sah. FÜNFTES OPFER DES IRREN SCHWULENKILLERS GEFUNDEN , schrie mir die Schlagzeile entgegen.
Ich hätte am liebsten gebrüllt und getobt und irgendwas aus dem Fenster geworfen. Wie konnten sie es wagen? Meine Werke sind so individuell, wie konnten sie das Opfer irgendeines herumpfuschenden Trittbrettfahrers für meines halten? Ich zitterte vor unterdrückter Wut, als ich zurück zu meinem Büro ging. Ich hätte den Operator gern gefragt, ob ich mal einen Blick in die Zeitung werfen dürfe, aber ich traute mir nicht zu, in diesem Zustand unbefangen mit jemandem zu sprechen. Ich wäre am liebsten auf die Straße gelaufen und hätte mir beim nächsten Zeitungsstand ein Exemplar gekauft, aber das wäre eine unverzeihliche Schwäche gewesen. Das Geheimnis des Erfolgs ist es, sich normal zu verhalten, sagte ich mir. Ich durfte nichts tun, das meine Kollegen auf den Gedanken bringen könnte, in meinem Leben würden seltsame Dinge vor sich gehen.
Geduld, sagte ich mir, ist eine der Kardinaltugenden. Also setzte ich mich an meinen Schreibtisch und beschäftigte mich mit den kniffligen Problemen einer bestimmten Software, die neu konzipiert werden mußte. Aber ich war mit meinen Gedanken nicht voll bei der Sache, und an diesem Nachmittag rechtfertigte ich mein Gehalt sicherlich nicht. Um vier Uhr hielt ich es nicht länger aus. Ich griff zum Telefonhörer und wählte die Nummer, unter der der Radiosender Bradfield Sound die neuesten Nachrichten für Anrufer abrufbereit hält.
Die Geschichte war das Hauptthema der Nachrichten, was ich auch nicht anders erwartet hatte. »Die Leiche, die in den frühen Morgenstunden in Temple Fields gefunden wurde, ist nicht das fünfte Opfer des Schwulenkillers, der Bradfields Homosexuellenszene in Angst und Schrecken versetzt hat, wie die Polizei heute nachmittag bekanntgab.« Als diese Worte des
Weitere Kostenlose Bücher