Das Lied der Sirenen
Knochenbau. Nicht einmal ihre Mutter hätte sie attraktiv nennen können, mit dem eckigen Kinn, der leichten Knollennase, dem breiten Mund und den seltsam weit auseinanderstehenden Augen. Auch wenn sie geschickt und keinesfalls sparsam mit dem Make-up umgegangen war, an den gegebenen Grundstrukturen war nicht viel zu verbessern. Tony war sich inzwischen sicher, daß er mit dieser Frau nie zusammen in einem Raum gewesen war, konnte jedoch nicht ausschließen, daß er ihr auf der Straße, an einer Straßenbahnhaltestelle oder auf dem Campus einmal begegnet war.
Die Turnschuhe – aus einem unerklärlichen Grund kamen seine Gedanken immer wieder zu den Turnschuhen zurück. Wenn die Schmerzen doch nur einmal lange genug aufhören würden, um sich richtig konzentrieren zu können. Tony schob die Füße enger zusammen in dem Versuch, den quälenden Schmerz in den Schultern zu mildern. Die wenigen Millimeter Höhe, die er dadurch gewann, reichten jedoch nicht aus. Wieder schoß eine entsetzliche Angst durch seine Eingeweide, und er blinzelte eine Träne aus dem Auge.
Was war mit diesen Turnschuhen los? Tony nahm alle Konzentrationskraft zusammen, die er aufbringen konnte, rief sich das Bild der Frau noch einmal vor Augen und erkannte dann mit einem leisen Seufzer der Erleichterung, was es war. Die Füße waren zu groß, selbst für eine so hochgewachsene Frau. Und die Hände, die zuerst in schwarzen Lederhandschuhen, später dann in Lastex-Handschuhen steckten – große Hände, dicke, kräftige Finger. Die Person, die ihn hierhergebracht hatte, war nicht immer eine Frau gewesen.
Carol drückte noch einmal auf die Türklingel. Wo zum Teufel war er? Die Lichter im Haus brannten, die Vorhänge waren zugezogen. Vielleicht war er nur schnell mal weggegangen, um sich eine Pizza zu holen, einen Brief einzuwerfen, eine Flasche Wein zu kaufen, ein Video auszuleihen? Mit einem frustrierten Seufzer wandte sie sich ab und begab sich zum Ende der Straße, wo sie in den Weg einbog, der zwischen Tonys Straße und den Häusern dahinter verlief. Sie ging bis zum Garten hinter Tonys Haus. Dort hatte der frühere Besitzer die Mauer eingerissen und den halben Garten als Abstellfläche für Autos asphaltiert, und auch Tony stelle seinen Wagen da ab, wie er ihr erzählt hatte.
Der Wagen befand sich an seinem Platz. »Verdammter Mist«, schimpfte Carol. Sie kehrte zum Haus zurück und schaute durch das Fenster in der Küchentür hinein. Das Licht in der Diele warf durch die geöffnete Tür einen schwachen Schimmer in die Küche, und sie konnte keine Anzeichen dafür entdecken, daß jemand daheim war – kein schmutziges Geschirr, keine leeren Flaschen. Auf gut Glück versuchte Carol es mit der Hintertür, jedoch ohne Erfolg. »Scheißmänner«, murmelte sie und ging wieder zu ihrem Wagen. »Fünf Minuten, mein Freund, dann bin ich weg«, sagte sie und ließ sich auf den Fahrersitz fallen. Nach zehn Minuten war noch immer niemand erschienen.
Carol startete den Motor und fuhr los. Am Ende der Straße schaute sie zu dem Pub auf der anderen Seite der Hauptstraße hinüber. Es ist einen Versuch wert, dachte sie. Sie brauchte weniger als drei Minuten, um die überfüllten und verräucherten Räumlichkeiten zu überprüfen und festzustellen, daß Tony Hill nicht im Farewell to Arms war.
Wohin sonst konnte er um neun Uhr an einem Sonntagabend zu Fuß gegangen sein? »Überallhin«, sagte sie zu sich selbst. »Du bist ja bestimmt nicht sein einziger Freund auf dieser Welt. Und er hat dich nicht erwartet; du hast ja nur den Rundruf für die Besprechung morgen veranlaßt.«
Carol gab auf und fuhr nach Hause. Michael war nicht da; er hatte, wie sie sich erinnerte, eine Verabredung zum Dinner mit einer jungen Frau, die er bei einer Computermesse getroffen hatte. Sie beschloß, sich von der Welt für heute zu verabschieden und ins Bett zu gehen. Vorher aber wollte sie Tony noch eine Nachricht auf seinem Anrufbeantworter hinterlassen. Wenn sie an zwei Tagen hintereinander ohne Vorwarnung bei ihm auftauchte, würde er das vielleicht falsch auslegen. Der Anrufbeantworter schaltete sich nach einigen Ruftönen ein, aber die übliche Ansage blieb aus, es erfolgte nur eine Serie von Klicks und dann der bekannte Piepston. »Hi, Tony«, sagte Carol. »Ich weiß nicht, ob Ihr Anrufbeantworter richtig funktioniert, und somit auch nicht, ob diese Nachricht bei Ihnen ankommt. Es ist einundzwanzig Uhr zwanzig, und ich will zeitig ins Bett gehen. Ich bin morgen
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