Das Lied der Sirenen
dennoch seine Augen zum Blick nach unten. Und wirklich, um jedes seiner Fußgelenke war ein Lederband geschlungen. Diese Bänder wiederum waren an einem Hängegerüst aus Seilen befestigt, in dem eine schwere Steinplatte lag. Ein Schauder befiel ihn und spannte die gequälten Muskeln noch schmerzhafter an. Er kannte sich mit Foltermethoden aus; zur Behandlung bestimmter Patientengruppen hatte er die Geschichte des Sadismus studieren müssen. Nicht einmal in seinen schlimmsten Träumen hatte er sich jedoch vorgestellt, daß er je in die Lage kommen würde, einem so unmenschlichen Schicksal direkt ins Auge sehen zu müssen.
Und schon rasten seine Gedanken diesem Schicksal voraus. Man würde ihn mit Hilfe der Winde bis unter die Decke hochziehen, seine Muskeln würden angespannt und schließlich reißen, seine Gliedmaßen bis zum äußersten gestreckt. Man würde die Winde loslassen, währenddessen sein Körper ein Stück nach unten sauste, und dann ruckartig abbremsen. Das Gewicht der Steinplatte, mit einer Geschwindigkeit von etwa zehn Metern pro Sekunde nach unten fallend, würde das Werk vollenden, seine Gliedmaßen aus den Gelenken reißen, und er wäre nur noch ein baumelndes, wirres Fleischbündel. Wenn er Glück hatte, würden der Schock und der Schmerz ihn in Ohnmacht fallen lassen.
Strappado
– zur hohen Kunst entwickelt von den spanischen Inquisitoren. Bei dieser Folter bestand kein Bedarf an High-Tech-Methoden.
In der Absicht, die wilde Panik niederzuringen, die seine Erkenntnisse hervorgerufen hatten, zwang er sich zu der Überlegung, wie er in diese Lage geraten war. Die Frau an der Tür – damit hatte es angefangen. Als er sie ins Haus gelassen hatte, war sie ihm irgendwie bekannt vorgekommen. Er war sich sicher, sie schon einmal irgendwo gesehen zu haben, aber er vermochte sich nicht vorzustellen, eine so ausgesprochen häßliche Frau getroffen zu haben und sich dann nicht mehr an sie erinnern zu können. Er war ihr durch den Flur ins Arbeitszimmer vorausgegangen, dann der flüchtige Geruch nach einer Medizin oder Chemikalie und die Hand, die sich plötzlich von hinten vor sein Gesicht schob und den kalten, ekligen Wattebausch auf seinen Mund und seine Nase preßte, ein Tritt von hinten in seine Kniekehlen, der Sturz auf den Boden. Er hatte sich gewehrt, aber sie hatte ihn mit ihrem Gewicht niedergedrückt, und nach wenigen Augenblicken hatte er das Bewußtsein verloren.
Danach war er hin und wieder zu einem schattenhaften Bewußtseinszustand erwacht, aber gleich wieder in Dunkelheit abgedriftet, und er registrierte nur noch, daß der Wattebausch ihn jedesmal, wenn er um die Rückkehr des Bewußtseins kämpfte, in die Ohnmacht zurückzwang. Schließlich war er endgültig zu sich gekommen – in Handy Andys Folterkammer. Aus dem Nichts drang ihm ein Zitat ins Gedächtnis: »Es hängt von den Umständen ab, Sir. Wenn ein Mann weiß, daß er in vierzehn Tagen gehängt wird, drängt das seinen Geist zu einer unglaublichen Konzentrationsfähigkeit.« Er wußte, irgendwo gab es einen Anhaltspunkt zur Erklärung dessen, was geschehen war, und er würde es ihm vielleicht ermöglichen, dem unausweichlich erscheinenden Schicksal noch zu entrinnen. Es mußte ihm nur gelingen, ihn herauszufinden.
Hatte er denn mit seinem Profil völlig falsch gelegen? War die Frau, die ihn gekidnappt hatte, Handy Andy? War sie der Serienmörder? Oder war sie nur der Lockvogel, die willige Komplizin, die ihrem Meister die Opfer heranschaffte? Wieder forschte er in seiner Erinnerung nach Einzelheiten des Geschehens, rief sich das Aussehen der Frau ins Gedächtnis zurück. Zuerst die Kleidung. Beiger Regenmantel wie der von Carol, nicht zugeknöpft, darunter ein weißes Hemd, die oberen Knöpfe offen, so daß der Ansatz voller Brüste zu sehen war, Jeans, Turnschuhe, dieselbe Marke, dasselbe Modell wie seine eigenen. Aber all das gab nichts her. Es waren nur äußere Beweise für die Sorgfalt, die Handy Andy aufwendete, um nicht gefaßt zu werden. Die Kleidung der Frau war so ausgewählt, daß irgendwelche Fasern, die an den Tatorten zurückblieben, keine Beweiskraft hatten, da sie ebensogut von Carols oder seiner eigenen Kleidung stammen konnten. Und Carol war inzwischen oft genug in seinem Haus gewesen, um solche Fasern zu finden.
Das Gesicht der Frau ließ trotz des ersten Eindrucks kein Erinnerungslämpchen aufleuchten. Sie war groß für eine Frau, mindestens einsachtundsiebzig, und sie hatte den dazu passenden derben
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