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Das Lied der Sirenen

Das Lied der Sirenen

Titel: Das Lied der Sirenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Val McDermid
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hast du vor dir gesehen? Was hast du gehört? Was hast du
gefühlt?
Warum hier?
    Das zweite Foto zeigte ein Stück der Mauer und des Gebüschs von der Straßenseite aus. Es war deutlich genug, daß Tony die kleinen quadratischen Eisenplättchen auf der Krone der Mauer erkennen konnte, die die einzigen Überreste von einem Gitter waren, welches vermutlich während des Kriegs abmontiert worden war, um daraus Waffen und Granaten herzustellen. In einem Abschnitt des Gebüschs waren abgebrochene Äste und zerdrückte Blätter zu erkennen. Das dritte Foto zeigte die Leiche eines Mannes, die mit dem Gesicht auf der Erde lag. Die Gliedmaßen waren in seltsamen Winkeln abgespreizt. Tony vertiefte sich in das Foto, versuchte sich an Handy Andys Stelle zu versetzen. Was hast du gefühlt? Warst du stolz auf dich? Warst du verängstigt? Hast du triumphiert? Hast du einen Hauch von Bedauern verspürt, daß du das Objekt deiner Begierde aufgeben mußtest? Wieviel Zeit hast du dir genommen, diesen Anblick in dich aufzusaugen, dieses seltsame Kunstwerk, das du da geschaffen hast? Hat das Geräusch von Schritten dich verjagt? Oder hast du dich nicht darum gekümmert?
    Tony schaute auf. Carol beobachtete ihn. Zu seiner Überraschung fühlte er sich erstmals nicht unangenehm berührt, daß die Augen einer Frau auf ihm ruhten. Vielleicht lag es daran, daß ihre Beziehung so eindeutig auf beruflicher Zusammenarbeit basierte, ohne daß eine Konkurrenzsituation damit verbunden war. Seine innere Anspannung verflog. »Der Fundort der Leiche – erzählen Sie mir mehr darüber.«
    »Crompton Gardens liegt im Zentrum von Temple Fields, dort, wo sich das Schwulenviertel und der Rotlichtbezirk überschneiden. Es ist nachts nur schwach beleuchtet, vor allem, weil die Straßenlaternen von denen, die ihre Sexdienste anbieten und in der Dunkelheit ihre Aktivitäten verbergen wollen, immer wieder kaputtgemacht werden. In Crompton Gardens wird eine Menge Sex gemacht, in den Büschen, auf den Parkbänken unter den Bäumen, in den Hauseingängen, in den Kellereingängen – normale Prostitution auf Ansprechbasis, aber auch mit Stammkunden. Es treiben sich die ganze Nacht über ständig Leute dort rum, aber sie gehören nicht zu denen, die damit rausrücken, wenn sie was Ungewöhnliches gesehen haben, selbst wenn es ihnen schon äußerst ungewöhnlich vorgekommen ist«, berichtete Carol, und Tony machte sich Notizen.
    »Wie war das Wetter?« fragte er.
    »Trockene Nacht, aber feuchter Boden.«
    Tony wandte sich wieder den Fotos zu. Die Leiche war aus den verschiedensten Sichtwinkeln aufgenommen worden. Dann, nach ihrer Bergung, hatte man den Boden in kleinen Abschnitten fotografiert. Es waren keine Fußspuren zu erkennen, aber einige schwarze Plastikfetzen lagen dort, wo sich die Leiche befunden hatte. Tony deutete mit der Spitze seines Bleistifts darauf. »Hat man feststellen können, woher die stammen?«
    »Von Müllsäcken der Städtischen Müllabfuhr, Standardausführung für Geschäfte und Wohnblocks. Die werden überall ausgegeben, wo Rädertonnen nicht angebracht sind. Dieser Typ wird seit zwei Jahren benutzt. Wir haben keine Hinweise, ob die Fetzen schon dort lagen oder zusammen mit der Leiche an diese Stelle gekommen sind.«
    Tony hob die Augenbrauen. »Sie scheinen ja seit gestern nachmittag eine Unmenge von Einzelheiten aufgenommen zu haben.« Carol grinste. »Es ist sehr verführerisch, die Superfrau vorzutäuschen, aber ich muß gestehen, daß ich mich bereits vorher darum bemüht habe, auch über die beiden anderen Ermittlungen alles, was ich nur konnte, rauszufinden. Ich war, ganz im Gegensatz zu meinem Chef, überzeugt, daß es einen Zusammenhang gab. Und ich muß fairerweise sagen, daß meine Kollegen, die die beiden anderen Untersuchungen leiteten, unvoreingenommen waren. Sie hatten keine Einwände, wenn ich mir gelegentlich ansah, was sie rausgefunden hatten. Als ich vergangene Nacht alles noch mal durchging, hat das nur meine Erinnerung wieder aufgefrischt.«
    »Sie haben die Nacht durchgearbeitet?«
    »Wie Sie vorhin schon sagten, es kommt auf die Umstände an. Ich werde sicher bis etwa vier heute nachmittag durchhalten. Dann wird es mich wie mit dem Vorschlaghammer treffen«, gestand Carol.
    »Botschaft empfangen und verstanden«, erklärte Tony und sah sich das nächste Foto an. Er kam jetzt zu der Serie mit Aufnahmen von der Autopsie. Die Leiche lag auf dem Rücken auf einer weißen Steinplatte, und die scheußlichen Wunden waren

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