Das Lied der Sirenen
ein.
»Ja, das denke ich schon. Crompton Gardens ist ein ziemlich augenfälliger Ort, aber die beiden anderen setzen gute Ortskenntnisse in Temple Fields voraus.« Carol hockte sich im Schneidersitz hin und überlegte, ob die Lage der Fundorte die Annäherung aus einer bestimmten Richtung voraussetzten.
»Ich muß mir die Fundorte anschauen, und zwar am besten zur gleichen Tageszeit, als die Leichen dort abgelegt wurden. Wissen wir, wann ungefähr das war?«
»Bei Adam wissen wir es nicht. Die geschätzte Todeszeit ist eine Stunde vor oder nach Mitternacht, also kann seine Leiche nicht vor dieser Zeit am Fundort abgelegt worden sein. Bei Paul ist bekannt, daß er kurz nach drei noch nicht unter dem Torbogen lag, wo er später gefunden wurde. Gareths’ Todeszeit wird auf neunzehn bis zweiundzwanzig Uhr am Abend vor dem Auffinden seiner Leiche geschätzt. Und bei Damien ist gesichert, daß er um dreiundzwanzig Uhr dreißig noch nicht im Hinterhof des Pubs lag.« Carol hatte die Augen geschlossen, um sich so genau wie möglich an die Angaben in den Berichten zu erinnern.
Tony schaute ihr ins Gesicht und ergriff die Gelegenheit, es ungeniert betrachten zu können. Selbst ohne das Strahlen ihrer blauen Augen ließ sich sagen, daß sie eine Schönheit war – ovales Gesicht, hohe Stirn, reine, blasse Haut, dazu dieses dichte blonde Haar, ein fester, entschlossener Mund, eine Falte zwischen den Brauen, wenn sie konzentriert nachdachte. Und seine Würdigung dieser Schönheit war so klinisch-trocken, als sähe er sich ein Foto in einer Ermittlungsakte an. Warum war das nur so? Warum ging bei ihm eine Klappe runter, wenn er es mit einer Frau zu tun hatte, von der sich jeder normale Mann angezogen fühlen würde? War es so, weil er es nicht zulassen wollte, daß sich in ihm Gefühle regten, die zu einem Punkt führten, bei dem er sich nicht mehr unter Kontrolle hatte, zu einer Situation, in der eine weitere Demütigung auf ihn lauerte?
Carol öffnete die Augen, und es spiegelte sich Überraschung in ihnen, als sie sah, daß er sie beobachtete.
Er spürte, wie seine Ohren rot anliefen, und wandte sich schnell wieder der Karte zu. »Er ist also ein Nachtschwärmer«, sagte er rasch. »Ich möchte mir gleich heute abend die Fundorte ansehen, wenn das möglich ist. Vielleicht finden Sie jemand anderen, der mich hinführt, damit Sie den ausgefallenen Schlaf nachholen können.«
Carol schüttelte den Kopf. »Nein, das geht schon. Wenn wir um fünf hier fertig sind, fahre ich nach Hause und schlafe ein paar Stunden. Ich hole Sie etwa um Mitternacht ab. Okay?«
»Wunderbar«, sagte Tony, stand auf und setzte sich wieder hinter seinen Schreibtisch. »Wenn Ihnen das nichts ausmacht.« Er nahm die Fotos erneut zur Hand und zwang sich, alles mit Handy Andys Augen zu sehen. »Den hier hat er ja schrecklich zugerichtet.«
»Paul ist der einzige, mit dem er so übel verfahren ist. Gareth hat Schnitte im Gesicht, allerdings nicht sehr tiefe. Pauls Gesicht aber ist zu Brei geschlagen worden – Nase gebrochen, Zähne eingeschlagen, gebrochene Wangenknochen, ausgerenkte Kinnladen. Auch die Verletzungen im Analbereich sind schrecklich, und außerdem ist ihm der Bauch aufgeschlitzt worden. Dieser hohe Grad von roher Gewaltanwendung war einer der Gründe für Superintendent Cross, auf zwei verschiedene Täter zu schließen.
Zudem ist bei ihm im Gegensatz zu den drei anderen keines der Gliedmaßen aus dem Gelenk gerissen.«
»Und das war auch die Leiche, die mit Plastikmüllsäcken zugedeckt war?«
Carol nickte. »Von dergleichen Art wie die Fetzen, die wir unter Adams Leiche gefunden haben.«
Sie gingen weiter zu Gareth Finnegan. »In diesem Fall hat der Killer sein Muster in mindestens zwei bedeutsamen Kriterien geändert. War es bisher Temple Fields, so hat er jetzt Carlton Park zum Ablegen der Leiche gewählt. Dort gibt es zwar auch einen Schwulenstrich, aber es ist dennoch eine Abweichung.« Tony hielt inne und lachte höhnisch auf. »Als ob nicht sein ganzes Verhalten eine Abweichung von der Norm wäre! Die zweite ist, daß er diesen Brief und das Video an die
Sentinel Times
geschickt hat. Warum hat er diese Leiche sozusagen angekündigt und die anderen nicht?«
»Ich habe mir darüber auch meine Gedanken gemacht«, sagte Carol, »und mich gefragt, ob es etwas damit zu tun haben könnte, daß die Leiche sonst vielleicht tagelang, wenn nicht gar wochenlang unentdeckt dort rumgelegen hätte.«
Tony machte sich eine Notiz und
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