Das Lied der Sirenen
Handy Andy?« murmelte Tony, während er zu seinem Büro zurückging. Als er wieder am Schreibtisch saß, las er die Artikel. Penny Burgess war zu großer Form aufgelaufen. Auf der Titelseite stand in balkengroßen Lettern: SCHWULENKILLER SCHLÄGT WIEDER ZU! Darunter wurde in etwas kleineren Buchstaben den Lesern mitgeteilt: POLIZEI RÄUMT EIN, DASS SERIENMÖRDER IN DER STADT SEIN UNWESEN TREIBT. In dem Artikel wurde der grausige Fund von Damien Connollys Leiche geschildert und dazu ein Foto von ihm beim Abschlußzeremoniell der Polizeiausbildung gezeigt. Auf den Seiten 2 und 3 stand eine sensationell aufgemachte Zusammenfassung der vorherigen drei Mordfälle, komplett mit Skizzen der Fundorte. »Hohlköpfiges, sensationsgeiles Geschwafel«, knurrte Tony und wandte sich den Seiten 24 und 25 zu. Die Überschrift HOMOSEXUELLE IN PANISCHER ANGST VOR DEM SCHWULENKILLER-MONSTER ließ keinen Zweifel daran, wen die
Sentinel Times
als bedrohten Personenkreis betrachtete. Der Artikel war auf die angebliche Hysterie in Bradfields Schwulenszene ausgerichtet und mit Innenaufnahmen von Cafés, Bars und Clubs angereichert, die die Szene mies genug darstellten, um den Vorurteilen der Leser weiteren Vorschub zu leisten.
»Oh«, sagte Tony, »das wird dir nun wirklich nicht gefallen, Handy Andy!« Dann las er den Leitartikel.
Wenigstens hat die Polizei jetzt eingestanden, wovon viele von uns bereits seit einiger Zeit überzeugt sind. In Bradfield treibt ein Serienmörder sein Unwesen, und seine Opfer sind junge, unverheiratete Männer, die die schäbigen Schwulenbars der Stadt frequentieren. Es ist eine Schande, daß die Polizei die Homosexuellen in der Stadt nicht rechtzeitig gewarnt hat. In der zwielichtigen Welt anonymer und unverbindlicher Sexualkontakte ist es für dieses Raubtier, dieses Monster, sicherlich nicht schwer, Opfer zu finden. Das Schweigen der Polizei hat es dem Killer nur noch leichter gemacht.
Das Widerstreben der Polizei, die Wahrheit ans Tageslicht zu bringen, hat den bereits bestehenden Verdacht der Homosexuellen bestätigt und die Furcht vertieft, daß die Behörden ihr Leben geringer einschätzen als das der anderen Mitglieder unserer Gesellschaft.
So wie damals erst die Morde auch an unschuldigen Frauen – statt nur an Prostituierten – die Polizei dazu brachte, dem Yorkshire Ripper volle Aufmerksamkeit zu schenken, so falsch ist es jetzt, daß erst ein Polizist ermordet werden mußte, bevor die Polizei von Bradfield den Schwulenkiller ernst nimmt.
Trotzdem fordern wir die Homosexuellen in unserer Stadt auf, in vollem Umfang mit der Polizei zu kooperieren. Und wir erwarten, daß die Polizei diese entsetzlichen Morde im Inter-
esse unserer homosexuellen Mitbürger mit vollem Einsatz und allen verfügbaren Mitteln untersucht. Je eher dieser geisteskranke Mörder gefaßt wird, um so besser ist es für unser aller Sicherheit.
»Die übliche Mischung aus Selbstgerechtigkeit, Entrüstung und unrealistischen Forderungen«, sagte Tony zu dem Teufelsefeu auf dem Fensterbrett. Er schnitt die Artikel aus und legte sie nebeneinander auf den Schreibtisch. Dann schaltete er seinen Kassettenrecorder ein und diktierte in das Gerät:
»Bradfield Evening Sentinel Times,
27 . Februar. Handy Andy hat nun schließlich doch als der
eine
Killer Schlagzeilen gemacht. Ich frage mich, wie wichtig ihm das ist. Einer der Lehrsätze bei der Profilanalyse von Serientätern lautet, daß sie süchtig nach Publicity sind. Bei ihm bin ich mir jedoch nicht so sicher, ob es ihm wirklich darauf ankommt. Er hat sich nach den ersten beiden Morden nicht anonym gemeldet, und keiner dieser Morde hat nach der Entdeckung der Leichen außergewöhnlich große Schlagzeilen gemacht. Beim dritten Mord hat er zwar durch eine Zeitung der Polizei die Botschaft zukommen lassen, wo die Leiche zu finden ist, aber er hat sich darin nicht als derjenige zu erkennen gegeben, der die ersten beiden Morde begangen hat. Ich hatte daran herumgerätselt, bis Inspector Carol Jordan eine Erklärung für den Brief und das beigefügte Video lieferte, nämlich die, daß ohne diese Hinweise die Leiche wahrscheinlich längere Zeit unentdeckt geblieben wäre. Damit ist klar, daß Handy Andy nicht wild darauf sein mag, Schlagzeilen zu machen oder Panik zu erzeugen, es ihm jedoch daran gelegen ist, daß die Leichen gefunden werden, solange an ihnen seine Arbeit noch zu erkennen ist.« Mit einem Seufzer stellte Tony den Recorder ab. Obwohl er dem akademischen Rummel schon
Weitere Kostenlose Bücher