Das Lied der Sirenen
den Sekunden, die er zur Reaktion brauchte, verzog ich mein Gesicht zu einem, wie ich hoffte, entschuldigenden Lächeln. Ich konnte die verschwommenen Umrisse seines Kopfs und der Schultern erkennen, als er durch den Flur auf die Tür zukam. Dann öffnete er sie, und wir standen uns von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Er lächelte fragend. Als ob er nie zuvor in seinem Leben Notiz von mir genommen hätte.
»Es tut mir leid, Sie zu stören«, sagte ich, »aber mein Wagen hat seinen Geist aufgegeben, und ich habe keine Telefonzelle in der Nähe gesehen. Darf ich Ihr Telefon benutzen, um den Automobilclub anzurufen? Ich werde für den Anruf selbstverständlich bezahlen …« Ich ließ meine Stimme langsam verebben.
Sein Lächeln wurde breiter, entspannter, und die Fältchen in den Augenwinkeln vertieften sich. »Kein Problem. Kommen Sie rein.« Er deutete nach hinten. »Das Telefon steht in meinem Arbeitszimmer. Gleich rechts da drüben.«
Ich ging langsam den Flur hinunter und spitzte die Ohren, ob er die Haustür zumachte. Als das Schloß einschnappte, fragte er: »Es ist doch hoffentlich nichts Schlimmes mit Ihrem Wagen?«
»Ich muß die Telefonnummer raussuchen«, sagte ich, blieb in der Tür zum Arbeitszimmer stehen und griff in den Rucksack, den ich in der Hand hielt. Adam kam auf mich zu, und als ich die Spraydose mit dem Reizgas rausholte, war er nur noch einen halben Meter von mir entfernt. Es hätte nicht besser sein können. Ich sprühte ihm eine kräftige Ladung voll ins Gesicht.
Er stöhnte vor Schmerz auf, taumelte zurück gegen die Wand und drückte die Finger auf die Augen. Ich reagierte schnell, stellte einen Fuß zwischen seine Beine, packte ihn an den Schultern und brachte ihn mit einer kurzen Drehbewegung zu Fall. Sein Gesicht schlug hart auf, und er rang nach Luft. Schnell war ich über ihm, packte sein linkes Handgelenk, drehte ihm den Arm auf den Rücken und ließ die Handschelle zuschnappen. Tränen strömten über sein Gesicht, aber er wehrte sich gegen meinen Griff. Ich schaffte es dennoch, seinen rechten, um sich schlagenden Arm zu packen und ihm die andere Hälfte der Handschelle anzulegen.
Seine Beine bewegten sich wild unter mir, doch mein Gewicht reichte aus, ihn auf dem Boden festzunageln. Ich zerrte die kleine, fest verschlossene Plastikdose aus dem Rucksack, öffnete sie, holte den mit Chloroform vollgesaugten Wattebausch heraus und drückte ihn auf seinen Mund und seine Nase. Der scharfe Geruch drang auch in meine Nase und verursachte einen leichten Schwindel und Übelkeit. Ich hoffte, das Chloroform würde noch voll seine Wirkung tun; ich hatte die Flasche seit mehreren Jahren aufbewahrt, nachdem ich sie aus der Krankenstation eines sowjetischen Kreuzfahrtschiffs gestohlen hatte, in der ich die Nacht mit dem Ersten Offizier verbracht hatte.
Adam strampelte noch heftiger, als die kalte Kompresse ihm den Atem raubte, aber nach wenigen Minuten gaben seine Beine ihr nutzloses Kämpfen auf. Ich wartete zur Sicherheit noch einige Zeit, dann stieg ich von ihm und fesselte seine Beine mit Klebeband. Ich steckte den Chloroformbausch wieder in die sichere Dose und verklebte ihm zuletzt noch den Mund.
Dann stand ich auf und atmete tief durch. So weit, so gut. Als nächstes zog ich ein Paar Lastexhandschuhe an und machte eine Bestandsaufnahme. Ich bin vertraut mit der Theorie des französischen Gerichtsmediziners Edmond Locard, erstmals demonstriert bei einem Mordprozeß im Jahre 1912 , daß jede menschliche Berührung eine Spur hinterläßt; ein Verbrecher wird am Ort seines Verbrechens immer etwas wegnehmen und etwas zurücklassen. Mit dieser Erkenntnis vor Augen, hatte ich am heutigen Tag meine Garderobe sorgfältig ausgewählt. Ich trug Levis 501 , dieselbe Marke, die ich bei Adam oft gesehen hatte. Als Oberteil hatte ich einen zu weiten Kricket-Pullover mit V-Ausschnitt angezogen, das genaue Pendant zu dem, den ich ihn bei Marks and Spencer vor zwei Wochen kaufen gesehen hatte. Jede einzelne Faser, die ich hinterließ, würde zwangsläufig auf Adams eigene Garderobe zurückgeführt werden.
Ich schaute mich kurz in seinem Arbeitszimmer um und blieb bei seinem Anrufbeantworter stehen. Es war ein altmodisches Gerät mit nur einem Kassettenfach. Ich klappte es auf und nahm die Kassette an mich. Es würde schön sein, eine Erinnerung an seine normal klingende Stimme zu haben, denn, da war ich mir sicher, die Tonspur auf meinem Videoband würde nicht dieselbe entspannte Stimme
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