Das Lied der Sirenen
Servierwagen. Ein Regal mit Büchern, Videos und CD s nahm etwa die Hälfte der Wand mit der Eingangstür ein.
Die Wände waren in einem kühlen Taubengrau gehalten, bis auf eine, welche aus unverputzten Backsteinen bestand, in die fünf hohe Rundbogenfenster mit Blick auf die Stadt eingelassen waren. Carol ging durch das Zimmer, bis sie das dunkle Band des Duke-of-Waterford-Kanals unten sehen konnte. Die Lichter der Stadt glitzerten wie das Schaufenster eines billigen Juwelierladens. »Michael?« rief sie.
Ihr Bruder streckte den Kopf aus der winzigen, einer Bootskombüse ähnlichen Küche und sah sie überrascht an. »Ich wußte gar nicht, daß du zu Hause bist«, sagte er. »Habe ich dich aufgeweckt?«
»Ich hätte sowieso bald aufstehen müssen. Hab’ nur mal ein paar Stunden geschlafen, bevor es wieder an die Arbeit geht. Hast du den Wasserkessel aufgestellt?« Sie setzte sich in der Küche auf einen Hocker vor dem Tresen, während Michael den Tee und für sich ein Sandwich mit Rindfleisch, Tomaten, schwarzen Oliven, Frühlingszwiebeln und Thunfisch machte.
»Was zu essen?« fragte er.
»So ein Sandwich wär’ nicht schlecht«, gestand sie. »Wie ist es in London gelaufen?«
Michael hob die Schultern. »Wie üblich. Es gefällt ihnen gut, was wir da machen, doch es soll spätestens bis gestern fertig sein.«
Carol verzog das Gesicht. »Klingt wie die Artikel in der
Sentinel Times
über den Serienmörder. Aber sag mal, was genau machst du im Moment eigentlich? Kannst du das einer Computer-Analphabetin in halbwegs verständlichen Worten erklären?«
Michael grinste. »Die nächste große Sache ist die Entwicklung von Computer-Abenteuerspielen in der Qualität von Videos. Man filmt reale Szenen, digitalisiert und manipuliert sie und macht daraus ein Computerspiel, das so realistisch ist wie ein Film. Und wir sind jetzt an der nächsten großen Weiterentwicklung. Stell dir vor, du spielst ein Computer-Abenteuerspiel, und alle Personen, die darin auftreten, sind Leute, die du kennst. Du bist die Heldin, aber nicht nur in deiner Vorstellung.«
»Da komme ich nicht ganz mit«, sagte Carol.
»Okay. Wenn du das Spiel in deinen Computer eingibst, fügst du Fotos von dir und allen anderen ein, die du in dem Spiel dabeihaben willst. Der Computer liest diese Information und überträgt sie in Screen-Bilder. Statt Conan der Barbar führt also dann Carol Jordan die Ermittlungen. Du kannst Bilder von deinen besten Freunden – oder von deinen Lustobjekten – als Mitspieler einfügen. Und allen, die du nicht magst, überträgst du die Rollen der Bösen. Du kannst also Abenteuer mit Mel Gibson, Dennis Quaid und Martin Amis erleben und gegen Feinde wie Saddam Hussein, Margaret Thatcher und Popeye ankämpfen«, erklärte ihr Michael enthusiastisch und legte die fertigen Sandwiches auf Teller. Dann gingen sie ins Wohnzimmer, wo sie sie aßen und dabei den Blick auf den Kanal genossen.
»Alles klar, oder?« fragte Michael.
»Im Prinzip ja«, antwortete Carol. »Wenn ihr diese Software fertig habt, kann man sie vermutlich dazu benutzen, Leute in kompromittierende Situationen zu versetzen, nicht wahr? Wie in Pornofilmen?«
Michael runzelte die Stirn. »Theoretisch ja. Aber der durchschnittliche Computerbenutzer wüßte nicht mal, wo er dazu ansetzen sollte. Man müßte genau wissen, wie man vorgeht, und man würde auf jeden Fall auch eine ziemlich teure Hardware benötigen, um eine angemessene Qualität der Fotos oder der Videos aus dem Computer rausholen zu können.«
»Gott sei dafür gedankt«, sagte Carol erleichtert. »Ich dachte schon, du würdest so eine Art Frankenstein-Monster für Erpresser und Journalisten von der Sensationspresse erschaffen.«
»Keine Chance«, erwiderte er. »Eine genaue Analyse würde einen Mißbrauch jedenfalls aufdecken. Wie sieht’s denn inzwischen bei dir aus? Wie kommst du bei deinen Ermittlungen voran?«
Carol hob die Schultern. »Ehrlich gesagt, könnte ich ein paar Superhelden aus deinen Computerspielen gut gebrauchen.«
»Und wie ist dieser Psychologe? Wird er neuen Wind in die Sache bringen?«
»Das hat er bereits getan. Popeye läuft schon mit völlig zerknittertem Gesicht rum. Aber ich glaube, daß bei der Zusammenarbeit mit ihm was Konstruktives rauskommt. Ich habe schon eine Besprechung mit ihm gehabt und festgestellt, daß der Mann voller Ideen steckt. Und obendrein ist er auch noch ein netter Kerl.«
Michael grinste. »Das muß ja geradezu eine erfrischende
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