Das Lied der Sirenen
Anschrift herauszufinden. Als es zum drittenmal läutete, war er gerade bei der Eingangstür angekommen. Er wünschte, es wäre ein Guckloch vorhanden. Vorsichtig machte er die Tür einen Spaltbreit auf.
Carol grinste ihn an. »Sie sehen aus, als würden Sie Handy Andy erwarten«, sagte sie. Als Tony nicht reagierte, fügte sie hinzu:
»Tut mir leid, ich bin ein bißchen früh dran. Ich habe versucht, Sie anzurufen, aber es war dauernd besetzt.«
»Tut mir leid«, murmelte Tony. »Ich habe wohl nach einem früheren Gespräch den Hörer nicht richtig aufgelegt. Kein Problem, daß Sie zu früh sind. Kommen Sie rein.« Er schaffte es irgendwie, zu lächeln, und führte Carol in sein Arbeitszimmer. Als er zu seinem Schreibtisch kam, legte er den Telefonhörer auf die Gabel.
Carol, die das registrierte, dachte: Er wollte nicht gestört werden, nicht einmal durch den Anrufbeantworter. Wahrscheinlich war es bei ihm so wie auch bei ihr, daß er einem klingelnden Telefon nicht widerstehen konnte. Sie schaute auf den Computerausdruck auf dem Tisch neben dem Drucker. »Sie waren offensichtlich sehr beschäftigt«, sagte sie. »Und ich dachte, Sie kämen nicht gleich zur Tür, weil Sie ein kleines Schläfchen gemacht haben.«
»Sind Sie denn zum Schlafen gekommen?« fragte Tony. Er sah, daß sie klarer aus den Augen schaute als heute nachmittag.
»Ja, vier Stunden, was ungefähr zehn zuwenig sind. Im übrigen habe ich ein paar Informationen für Sie.« Sie teilte ihm kurz und prägnant mit, was sie bei ihrem Besuch in der Scargill Street erfahren hatte, erwähnte dabei jedoch Cross’ Feindseligkeiten nicht.
Tony hörte ihr aufmerksam zu und machte sich Notizen auf seinem Block. »Interessant«, sagte er dann. »Ich glaube allerdings nicht, daß es etwas bringt, die aktenkundigen Sexstraftäter noch einmal zu überprüfen. Handy Andy wird vorher höchstens durch Jugendstraftaten, Bagatelldelikte, leichte Vergehen oder so was aufgefallen sein. Nun ja, ich habe mich auch früher schon manchmal geirrt.«
»Trifft das nicht auf uns alle zu? Übrigens, ich habe mich beim HOLMES -Team umgehört. Es gibt dort niemanden, der sich mit Analysen von vorgegebenen Mustern auskennt. Also habe ich meinen Bruder befragt, ob er in dieser Sache was für uns tun kann. Er will es versuchen. Soll ich ihm einfach die betreffenden Fotos geben, oder kann man ihm auf eine andere Art das benötigte Rohmaterial zur Verfügung stellen?«
»Ich nehme an, die Möglichkeit von Fehlern ist geringer, wenn er direkt mit den Fotos arbeitet«, antwortete Tony. »Danke, daß Sie das für mich geklärt haben.«
»Kein Problem«, sagte Carol. »Insgeheim glaube ich, er fühlt sich geschmeichelt, daß ich ihn gefragt habe. Er meint, ich würde ihn nicht ernst nehmen. Wissen Sie, er erstellt die Software für Computerspiele, ich dagegen arbeite an realen Dingen.«
»Und tun Sie es?«
»Was? Ihn ernst nehmen? Das können Sie wohl glauben. Ich respektiere jeden, der mehr von Computern versteht als ich. Außerdem verdient er doppelt soviel wie ich. Das muß man ja wohl ernst nehmen.«
»Na, ich weiß nicht. Andrew Lloyd Webber verdient wahrscheinlich am Tag mehr als ich im Monat, aber ich nehme ihn dennoch nicht ernst.« Tony stand auf. »Macht es Ihnen was aus, Carol, wenn ich Sie für zehn Minuten allein lasse? Ich muß unter die Dusche, um wieder voll wach zu werden.«
»Natürlich nicht, gehen Sie nur. Ich bin schließlich zu früh hier.«
»Danke. Wollen Sie sich inzwischen einen Tee oder Kaffee machen?«
Carol schüttelte den Kopf. »Nein, danke. Es ist kalt draußen, und es gibt nicht viele Orte in Temple Fields, wo eine Frau sich in den frühen Morgenstunden kurz diskret verziehen kann.«
Fast schüchtern schob Tony Carol den Computerausdruck zu.
»Ich habe mit der Arbeit an den Profilen der Opfer begonnen. Möchten Sie einen Blick darauf werfen, während ich weg bin?«
Eifrig griff Carol nach dem Papier. »Sehr gern. Ich bin von dieser ganzen Arbeit fasziniert.«
»Das ist ja erst die Vorarbeit«, betonte Tony und ging zur Tür.
»Ich meine, ich habe noch keinerlei Schlüsse gezogen. Das steht mir noch bevor.«
Als er das Zimmer verlassen hatte, sagte Carol leise: »Entspann dich, Tony, ich bin auf deiner Seite.« Sie blickte ihm noch einen Moment nach und fragte sich, was ihn verwirrt hatte. Als sie sich am Nachmittag voneinander verabschiedet hatten, herrschte bereits so etwas wie Kameradschaft zwischen ihnen, wie Carol meinte, aber jetzt
Weitere Kostenlose Bücher