Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
Tochter.
Meine Großmutter hatte diesen Satz gesagt, nicht meine Mutter, auf einmal war ich mir sicher. Eine ältere Stimme. Ruhig, beinahe sachlich.
War Amalie 1945 von Soldaten vergewaltigt worden? Hatte mein Großvater vergeblich versucht, sie davor zu bewahren? Und was, wenn Amalie dann schwanger wurde? War so meine Mutter gezeugt worden? Ein uneheliches Kind. Ein Kind der Gewalt, nicht der Liebe? Ein Kind vom Feind, eine Schande, ausgerechnet im Pfarrhaus, dem Palast auf dem Berge mit den gläsernen Wänden?
Vielleicht war es so gewesen. Vielleicht hatten sie das Beste daraus zu machen versucht und die Schande vertuscht, indem sie dieses Kind als legitimes Kind ausgaben, als zehntes Kind von Elise und Theodor, als Gottesgeschenk, und Amalie als seine Schwester.
Aber wie ging es Amalie damit, wie hatte sie das ausgehalten? Die Vergewaltigung, die Lügen, das Schweigen? Vielleicht überhaupt nicht, vielleicht war sie daran zerbrochen. Vielleicht hatte sie sich umgebracht. Wie meine Mutter. Wie Ivo.
Etwas Nasses sickerte in den Ausschnitt meines Pullovers. Ich wischte mit der Hand über meinen Hals, dann übers Gesicht, merkte erst jetzt, dass ich weinte. Meine unbekannte Schattentante, die als Mädchen
Vom Himmel hoch
gesungen hatte. Die vielleicht gar nicht meine Tante war, sondern meine Großmutter, auch wenn das niemand sagte.
Diese Traurigkeit meiner Mutter manchmal. Ihre Stille. In Mecklenburg war mir die oft noch undurchdringlicher vorgekommen als in Köln. Und nie, niemals hatte ich meine Mutter wirklich innig mit meinen Großeltern gesehen, eher schien sie in deren Gegenwart auf der Hut zu sein, angespannt selbst dann noch, wenn sie und meine Großmutter gemeinsam die Katzen fütterten. War meine Mutter mit fünfzehn Jahren in den Westen geflohen, ohne das je zu bedauern und ihr Zuhause zu vermissen, weil sie sie nicht liebten? Und war ihnen daraus ein Vorwurf zu machen, wenn sie tatsächlich die Tochter eines Russen war, eines der verhassten Besatzer, der ihrer Tochter Amalie Gewalt angetan hatte?
Aber uns, die Enkel, hatten meine Großeltern geliebt. Und mein Großvater mochte es sogar, wenn ich ihm etwas auf dem Klavier vorspielte, selbst am Anfang, als mein Repertoire noch äußerst überschaubar war.
Spiel mir das ruhig noch einmal vor, Kind. Das klappt schon sehr gut, aber Übung macht den Meister.
Später, als ich immer besser wurde, hatte er hin und wieder seine Geige hervorgeholt, und dann spielten wir gemeinsam. Und wenn dann alle Töne perfekt ineinandergriffen, ging sein Blick manchmal in die Ferne, als wäre er ganz woanders.
An wen dachte er dann, an Amalie? Und wenn das tatsächlich so war, warum sprach er dann nicht von ihr? Und wie konnte er Tschaikowsky lieben, einen Russen, wenn ein sowjetischer Soldat für den Tod seiner Tochter verantwortlich war?
Elise, 1940
Nur weil sie noch einmal aus dem Schlaf hochgeschreckt ist und mit dem bangen Gefühl in die Küche schleicht, dass sie vergessen hat, den Aufschnitt ordentlich zu verwahren, sieht sie den Mann draußen, sieht ihn sich nähern. Er ist schrecklich dünn und es wirkt, als würden ihm seine Beine nicht richtig gehorchen, aber dann ist er doch an der Haustür, und als er klopft, ist das beinahe unhörbar, wie ein Zweig, den ein Windhauch ganz sacht an die Fenster presst.
»Hermann schickt mich.« Seine Stimme ist heiser, ein Raspeln. Sein Schädel ist kahl und sein Atem riecht faulig.
»Hermann.« Etwas schnürt ihr die Kehle zu, lässt sie verstummen. Sie fasst den Fremden am Ellbogen, führt ihn in die Wärme der Küche. Schritte aus Glas, unendlich zerbrechlich.
Natürlich hat sie den Aufschnitt in die Speisekammer geräumt. Jetzt holt sie ihn wieder hervor, belegt zwei Scheiben Schwarzbrot. Füllt einen Becher mit Wasser, entzündet die Gasleuchte und schürt das Feuer.
»Das hier, das soll ich Ihnen geben. Von Hermann.« In den Augen des Fremden blitzt etwas Gieriges, Raubkatzenhaftes, als sie den Teller mit den Wurstbroten vor ihn schiebt, aber er isst nicht.
»Er hat das schon vor zwei Monaten geschrieben, aber ich konnte erst jetzt kommen.«
Der Zettel, den er ihr gibt, ist winzig. Ein vielfach gefalteter, schmuddeliger Klumpen. Sie hat Mühe, ihn auseinanderzufalten, weil ihre Hände auf einmal ganz schwach sind, ganz zittrig, genau wie der Mann, der noch immer nicht isst, sondern sie einfach ansieht, mit brennenden Augen.
Hermanns Schrift, die erkennt sie sofort. Und die Blume, die er gezeichnet hat.
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