Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
Einsamkeit nicht einmal meine eigene, jedenfalls nicht ausschließlich, sondern auch die meiner Mutter, die nie eine Freundin gehabt hatte, nie einen Beruf ausgeübt hatte, sondern nur für uns zu leben schien, ihre Familie, die sie am Ende trotzdem nicht mehr hatte haben wollen.
Ich beschloss, dass ich handeln müsste, dieses Haus wieder verlassen. Ich nahm mir das fest vor, morgens, wenn ich aufstand, abends, bevor ich einschlief. Ich notierte auf Zetteln, was ich zu tun hatte: meine Bewerbungen an die Hotels schicken. Noch einmal mit Richard und Elisabeth über Amalie sprechen. Nach Klütz fahren. Nach Zietenhagen. Ein Klavier kaufen, dringend, bevor meine Ersparnisse aufgebraucht wären. Bevor ich durchdrehte.
Aber dann tat ich all das doch nicht. Etwas hielt mich in Sellin, in diesem Haus, in diesem Zustand der Isolation, ich wusste nicht, was. Es war wie ein langes, sehr langes Atemanhalten. Ein Warten. Es war, als ob ich den Überfluss leerer Räume um mich brauchte, die Stille, die nur von mir selbst unterbrochen wurde. Ja, als ob es sogar richtig war, meine Finger nicht mehr stundenlang über Klaviertasten zu jagen, obwohl ich mich deshalb zugleich roh fühlte, wund, meiner Sprache beraubt, meiner Identität.
Das Haus wurde mir vertraut. Sein Geruch. Seine Geräusche. Manchmal, nachts, traten Rehe in den Garten und witterten, als würden sie meine Anwesenheit spüren. Manchmal glitt ein Kahn über den See, und wenn der Mond hell genug schien, schien das lange Haar seines Ruderers zu leuchten. Doch vielleicht war das nur eine Halluzination oder dieser Mann war ein Geist, der Nöck höchstpersönlich. Ich hörte dem Regen zu und dem Wind. Manchmal war es so still, dass ich sicher war, ich könnte auch hören, wie der Efeu aus seiner Winterstarre erwachte und zu wachsen begann, Ranken und Blätter, die an der Hauswand hinaufkrochen, feinste Haarwurzeln, die unaufhaltsam in den Mörtel drangen und in die Risse der Ziegelsteine, sich dort festkrallten und nicht mehr losließen.
Ich stellte meine Stereoanlage im Verandazimmer auf. Ich ging in die Sauna und tauchte mit angehaltenem Atem ins eisige Wasser und fragte mich, ob auf dem Seegrund wohl Flundern im Schlamm lagen und mich beobachteten. Ich wanderte im strömenden Regen um den See und über den Friedhof und kochte mir zum Aufwärmen Tee aus dem Regenwasser, das ich aus einem Eimer vor dem Küchenfenster schöpfte, wie Jahrzehnte zuvor meine Großmutter. Ich lernte den Holzofen in der Küche anzuheizen. Ich gewöhnte mich wieder daran, einzukaufen und zu waschen und all diese anderen Alltagsdinge selbst zu erledigen, weil es keine Crewmesse mehr gab, keine Bar, keine Chinesen und Philippinos, die das Wäschewaschen und Putzen auf dem Schiff für alle übernahmen.
Manchmal saß ich nächtelang reglos am Fenster und sah zu, wie es dunkel wurde und dann wieder dämmrig. In anderen Nächten hörte ich Musik, ohne auch nur einen Blick in den Garten zu werfen. Lange. Laut. Wie in einem Rausch. Denn zum ersten Mal seit Jahren, vielleicht überhaupt, musste ich keine Kopfhörer benutzen, auf niemanden Rücksicht nehmen. Ich war frei, weil ich allein war. Ich legte Patti Smith auf und gleich darauf Beethoven – den Patti Smith verehrte, weil er, wie sie einmal bei einem Konzert erklärte, ein dreckiger Musiker gewesen war, immer voller Tinte, mit der er sich besudelte, wenn er seine Kompositionen wie in einem Rausch auf Papier bannte. Ich hörte Ravi Shankar und Aziza Mustafa Zadeh. Dann Led Zeppelin und Genesis. Tschaikowsky. Tom Waits. Bartok. Sophie Hunger und Joan Wasser, die eigentlich eine klassisch ausgebildete Geigerin war, aber unter dem Künstlernamen
Joan as Police Woman
als Rocksängerin auftrat, mit selbst geschriebenen Songs, die kein Mainstreamrock waren, genauso wenig wie Sophie Hungers Musik wirklich Jazz, auch wenn ihre CDs in den Plattenläden in dieser Kategorie verkauft wurden.
»Die wollten Jazz, Rixa, reinen Jazz.« – »Du musst richtig spielen, Ricki, nicht herumkaspern. Die Klassik ist ernst, die darf man nicht verhunzen.« -»Barpianistin, was für ein Jammer.«
Ich regelte die Lautstärke hoch, zog Sportsachen an, tanzte barfuß und sang und schrie, bis ich völlig erschöpft war, müde genug, um zu schlafen und all die Stimmen in meinem Kopf nicht mehr zu hören. Und manchmal funktionierte das wirklich, dann driftete ich in einen Zustand traumloser Bewusstlosigkeit, wenigstens für ein paar Stunden.
Ende März, bald April. Die
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