Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
Hauchdünne Bleistiftlinien, die ein Maiglöckchen andeuten. Doch die Buchstaben sind Miniaturen und tanzen vor ihren Augen, als wollten sie weglaufen, als sträubten sie sich, ihren Sinn preiszugeben.
Sie dreht den Zettel zum Licht, beugt sich tiefer.
Liebste Elise, ich kann nicht beschreiben, wie es hier ist, mir fehlen die Worte dafür. Hölle, manchmal denke ich das, aber wir sind ja noch auf Gottes Erde.
Man hält es nicht aus, man kann es nicht aushalten, und dann geht es doch noch. Eine weitere Minute lang, eine Stunde, einen Tag, eine Nacht, noch eine … Ich habe Dich geliebt, immer nur Dich. Das sollst Du wissen. Ich wollte Dir das nie sagen und manches Mal habe ich bedauert, dass ich damals nicht, aber jetzt –
Jemand schreit. Schrill. Schreit immer wieder Hermanns Namen. Ist das sie? Aber sie hat doch keine Stimme mehr, keine Kraft, keine Worte für das, was sie empfindet.
– ich hatte keine Zeit mehr, zu Ende zu schreiben. Lebe wohl. Gott behüte Dich. Wenn Du dies liest, ist’s vorbei mit mir.
Theodor, irgendwann nimmt sie ihn wahr, seine Arme, die sie halten, seine Stimme, die Worte sagt, Botschaften, die durch einen rabenschwarzen Tunnel auf sie zurasen, die in ihr Ohr dringen wollen, in ihr Herz, und sie doch nicht erreichen. Ein Bett, ihr Bett, verschwommen nimmt sie wahr, dass jemand sie zudeckt und ihr ein Stoffsäckchen mit ofenwarmen Kirschkernen zusteckt. Wie ist sie wieder ins Bett gekommen und wo ist dieser Fremde? Sie weiß es nicht. Sie zittert, ihre Zähne klappern. Sie tastet nach dem Kirschkernsäckchen, eine junge Frau hat ihr das unter die Decke geschoben, nein, keine Frau, ein junges Mädchen, ihre Tochter Amalie, mit verschwollenen Augen. Elise will sie ermahnen, will sie wieder ins Bett schicken, weil es doch Nacht ist, aber da ist Amalie schon wieder verschwunden, war vielleicht nur ein Traum. Doch das Kirschkernsäckchen ist noch da, und sie hält sich daran fest, an seiner Wärme und an dem Rascheln der hölzernen Perlen, an ihrem Wispern: Hermann! Hermann!
»Ein leichtes Fieber, Erschöpfung. Sie braucht jetzt vor allem Ruhe.«
Eine kühle Männerhand legt sich auf ihre Stirn. Prüfend. Tastend. Tag ist es geworden, und sie weiß, dass die Hand einem Arzt gehört und dass sie ihn kennt. Aber ihr fällt sein Name nicht ein, und sie weiß auch nicht, was er hier will, sie ist doch nicht krank, und auf jeden Fall ist er nicht Dr. Kuhn, der sie früher nur anzusehen brauchte, damit sie sich gleich getröstet fühlte, und also liegt sie einfach mit geschlossenen Augen in den Kissen und schluckt, als der Geschmack von Baldrian ihre Lippen benetzt, und sie wehrt sich auch nicht, als sie ihr einen Säugling an die Brust legen. Johannes, ihr Jüngster. Das Verdienstkreuz in Gold hat Wilhelm Petermann ihr noch im Kindbett für dieses neunte Kind überreicht.
Der Deutschen Mutter
. Wie gierig das zahnlose Mäulchen nach der Nahrungsquelle schnappt, wie gierig Johannes saugt und unbedingt leben will. Weil er noch nichts weiß von dieser Welt, nichts vom Krieg, nichts vom Unrecht, nichts von einem Arbeitslager in Buchenwald, in dem Menschen sterben wie Fliegen, und wer soll es ihm auch verdenken?
Der Tag vergeht wieder, dann die Nacht, dann ein weiterer Tag, und als eine weitere Nacht hereingebrochen ist, steht Elise auf und nimmt dieses schauderhaft protzige, goldene Strahlenkreuz von der Wand, das dort eigentlich niemals etwas zu suchen hatte, denn es gibt nur einen wahren Gott und ein Kreuz, egal, was die Nationalsozialisten auch behaupten.
Gezeichnet Adolf Hitler.
Sie wickelt das weiß-blaue Seidenband so, dass die Gravur auf der Rückseite des Kreuzes nicht mehr zu erkennen ist.
Sie kommen mit grauen Bussen und holen die armen Würmchen, die ihrer Meinung nach unsere Volksgesundheit gefährden, angeblich, um sie
in eine Heilanstalt zu bringen. Aber die Eltern dürfen sie dort nicht besuchen und sehen sie nie wieder
, hat Clara im Sommer geflüstert.
Ich weiß bald nicht mehr, wo ich mit Melinda und Heinrich noch hin soll. Zwar hat Bischof Wurm nun endlich einen Protestbrief geschrieben, aber ich fürchte, der wird überhaupt nichts bewirken.
Lebensunwertes Leben. Kann es das denn geben, wenn doch alles Gottes Werk ist? Aber Gott lässt auch zu, dass nun wieder Krieg ist, Gott lässt Buchenwald zu und die grauen Busse. Wie hat Hermann das ausgedrückt? Aber wir sind ja noch auf Gottes Erde.
Elise legt das Kreuz in seine Schatulle und schiebt sie in das unterste Fach der
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