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Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Titel: Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
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Tage vergingen, wurden allmählich länger. Aus dem welken, dreckverkrusteten Kraut im Garten sprossen ein paar Blausterne und Winterlinge. Dann die ersten Narzissen. Eines Morgens strich mir Othello um die Beine, schnurrte und ließ sich zum ersten Mal streicheln, also war wohl die Zeit gekommen, ihn nach draußen zu lassen, auch wenn sich etwas in mir dagegen sträubte. Ich wartete noch zwei Tage, dann öffnete ich die Verandatür und sah zu, wie der Kater misstrauisch Pfote für Pfote ins feuchte Unkraut senkte, sah ihn schneller werden, mutiger, und in Richtung See verschwinden, genau so, wie ich das in Berlin phantasiert hatte.
    Ich rief nach ihm, doch er kam nicht zurück. Danach wütete ich im Garten. Füllte Säcke mit modrigem Blattwerk. Fügte Steine in eine halb verfallene Mauer, einen Tag lang, noch einen Tag, bis meine Finger blutig und rau waren und mir die Arme so wehtaten, dass ich glaubte, ich könnte sie nie mehr bewegen. Es half aber nichts, Othello blieb verschwunden. Erst als eine weitere Nacht vergangen war, schritt er morgens ins Haus, als wäre das selbstverständlich, und das stimmte mich auf absurde Weise euphorisch.
    Acht Jahre Sellin, acht verschwiegene Jahre. Der Hunger. Der Krieg. Das Sterben. Die russischen Soldaten. Die Flüchtlinge, die sich in der Kirche verschanzten. Die namenlosen Toten, die mein Großvater bestattete.
So viele, Ricki, so viele, und meistens in Särgen, die kaum diesen Namen verdienten. Notdürftig zusammengenagelte Kisten aus hauchdünnen Sperrholzbrettern waren das. Und manchmal gab es selbst die nicht mehr, dann landeten wohl auch einmal zwei einander völlig Fremde in einem Grab, oder eine Mutter musste sich den Sarg mit ihrem Kind teilen, obwohl das verboten war.
    Winter 1944/45. Ich betrachtete Fotos im Internet und las Zeitungsberichte. Ich rief mir die Nachtflüstereien meiner Mutter in Erinnerung, öffnete die Haustür und versuchte mir vorzustellen, was ich fühlen würde, wenn dort jeden Morgen aufs Neue steif gefrorene Leichen lägen, weil dies nun einmal das Pfarrhaus war, direkt neben dem Friedhof. Ich versuchte mir vorzustellen, wie mein Großvater das verkraftet hatte. Meine Großmutter. Und wie Amalie, diese junge Frau auf dem Foto aus dem Tresor meiner Mutter mit dem feinen Lächeln. Traumatisiert waren sie, würde man heute sagen. Unter Schock. Doch damals gab es für das, was mit ihnen geschah, keine Worte, und es gab keine Hilfe. Es gab allenfalls Gott und den Pfarrer und die Familie.
    1945. Das Jahr, in dem alles zusammenbrach. Das Jahr, in dem die Russen kamen, die gottlosen Roten, verhasst und gefürchtet, weil sie in Mecklenburg wüteten wie zuvor die deutschen Soldaten im Osten. Weil sie nahmen, was sie wollten: Vieh und Uhren. Häuser und Frauen. Das Jahr, an dessen Ende meine Großmutter Elise zum letzten Mal ein Kind gebar, meine Mutter. All das hatte Amalie offenbar heil überstanden, erst 1949 wurde sie angeblich krank und starb in Berlin. Wegen der Russen, hatte Richard gesagt. Vier Jahre nach Kriegsende, vier Jahre nach der Besatzung. – Es passte nicht. Es passte hinten und vorn nicht.
    »Du drehst ab«, sagte Alex. »Jetzt mach mal halblang.«
    »Dann komm verdammt noch mal her und hilf mir, die Wahrheit herauszufinden.«
    »Ich kann nicht, es geht nicht, mein Projekt –«
    Ich legte auf, nahm den Kirchenschlüssel vom Haken, lief hinüber zum Friedhof.
    Es wurde schon dämmrig, ein grünliches Abendlicht lasierte den Himmel und ließ ihn unwirklich aussehen, als gäbe es noch eine andere Lichtquelle als die sinkende Sonne. Ich erreichte die namenlosen Grabstätten und strich mit der Hand über eines der verwitterten Steinkreuze. Das Moos war kühl und sehr weich unter meinen Fingern. In der Linde über mir spreizten Krähen die Flügel.
    Es gibt schlimmere Sünden, als sich selbst zu richten.
    Ich stand sehr still, den Blick auf die Krähen gerichtet. Was, wenn Amalie tatsächlich von russischen Soldaten vergewaltigt worden war, aber nicht 1949, sondern vier Jahre zuvor, beim Einmarsch der Roten Armee, am Anfang des Jahres 1945?
    Ich schloss die Kirchentür auf, zog sie hinter mir zu und setzte mich in eine der hinteren Bankreihen, den Blick auf die kindlichen Sünderlein gerichtet, die noch immer aus ihren Luken in den Himmel zu krabbeln versuchten und Jesus um Gnade anflehten, so, wie sie das bereits an jenem Jahrzehnte zurückliegenden Sommertag getan hatten, an dem ich hier verzweifelt war.
Du bist nicht meine

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