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Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Titel: Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
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sein. Ich wollte meine Großeltern behalten. Meine Familie, so wie ich sie kannte. Mein Selbstbild. Ich wollte auch nicht, dass meine Mutter sich mit diesem Wissen gequält hatte. Und obwohl ich von Amalie kaum etwas wusste und bislang nur ein einziges Foto von ihr gefunden hatte, wünschte ich mir, dass sie nicht hatte leiden müssen.
    Boltenhagen. Klütz. Der dunkle Sog der Klarinetten und Fagotte dominierte die Streicher. Ich hatte gezögert, ob ich der Einladung zum Vorstellungsgespräch in das Boltenhagener Luxushotel folgen sollte, aber jetzt, da ich in der Ferne schon die Ostsee erahnte, schwanden meine Zweifel. Wann, in welchem Jahr, wurde in Deutschland erstmals offen über das Ausmaß der Vergewaltigungen deutscher Frauen beim Einmarsch der Roten Armee berichtet? Nach der Wende, Jahrzehnte nachdem es geschehen war. Vergewaltigung als Rache. Als Mittel der Kriegsführung und ultimativen Unterwerfung und Demütigung. Ich weiß noch, dass ich mich gefragt hatte, warum all diese Frauen, denen dieses Grauen widerfahren war, so viele Jahre lang geschwiegen hatten und zum Großteil auch weiterhin schwiegen. Weil ihr Entsetzen noch immer zu groß war? Oder ihre Scham? Weil sie damals versteinerten? Einmal hatte ich in einer Reportage gelesen, dass eine Flüchtlingsfrau aus Ostpreußen so oft vergewaltigt worden war, dass sie den Verstand verlor und nicht mehr aufhören konnte zu lachen, und sobald ein Soldat auch nur in ihre Nähe kam, lief sie zu ihm und raffte ihren Rock bis zum Bauch hoch, damit er sehen konnte, dass sie darunter nackt war, bereit für ihn. Wochenlang hatte mich diese Geschichte damals verfolgt, und nun, da sie mir wieder einfiel, fand ich sie noch immer genauso verstörend.
    Der Tag war dennoch himmelblau und die Wolken so schäfchenartig wie in meinen Kindererinnerungen aus Poserin. Und als hinter den sanft geschwungenen Feldern der Klützer Kirchturm in Sicht kam, wusste ich, ich könnte mich immer noch vor ihn stellen, den Kopf in den Nacken legen und die Augen zusammenkneifen, und dann würde ich ihn zum Schwanken bringen wie früher.
    Der dritte Satz, Allegro moderato, war ein Walzer, doch selbst den Dreivierteltakt der Streicher durchdrang hin und wieder das düstere Leitthema der Klarinetten. Ein vollständiges Sich-Beugen vor dem Schicksal, dem unergründlichen Walten der Vorsehung, habe er mit dieser Sinfonie ausdrücken wollen, hatte Tschaikowsky einer Gönnerin nach der Vollendung dieses Werks geschrieben. An was hatte mein Großvater gedacht, wenn er diese Musik hörte? An den Krieg, an Amalie?
    Ich nahm die Abbiegung nach Boltenhagen, ließ Klütz vorerst links liegen. Der überdimensionierte Parkplatz eines Lebensmitteldiscounters tauchte neben der Straße auf, kurz darauf die mit Glitzergirlanden gekränzte Filiale eines Autohändlers und das Gerippe einer Bushaltestation, in der zwei Bier trinkende Skinheads saßen. Das Mecklenburg der Nachwendezeit. Mein Großvater hätte sich über die Vertreter der Linken im Landtag vermutlich weitaus mehr ereifert als über die NPD. Der größte Feind, der Erzfeind: die Kommunisten, die mit Gott nichts zu tun haben wollten und die Mauer gebaut hatten, was Gott aus einem nicht nachvollziehbaren Grund ungestraft geschehen ließ. Zu den DDR-Wahlen war mein Großvater niemals freiwillig gegangen, aber die Stasi hatte ihn abholen lassen, jedes einzelne Mal – unser Service für Sie, Herr Retzalff, damit Sie das Wählen auch nicht versäumen. Bis vor das Wahllokal hatten sie ihn kutschiert und aufgepasst, dass er auch wirklich hineinging, und er gab sich jedes Mal Mühe, seinen Stimmzettel ungültig zu machen.
Denn was soll man sonst tun, sie lassen uns ja keine Alternative
.
    Das Hotel, das erwog, mich als Barpianistin anzustellen, war ein Klotz, ein weißer Berg vor einem gigantischen Parkplatz, doch die Lobby wirkte großzügig und luftig, und von meinem Platz am Flügel konnte ich das Meer sehen.
    »Ihre Referenzen sind ja exzellent.«
    Der Hoteldirektor war jung und dynamisch und musterte mich auf eine Weise, die mir bestätigte, dass es klug gewesen war, ein Cocktailkleid, Strumpfhosen und die hochhackigen grünen Stiefel anzuziehen und mit Monis tatkräftiger Unterstützung mein Haar frisch zu färben. Die Glastür zum Jachthafen schwang lautlos auf und zu, wenn Urlauber hinein- oder hinaustraten, die Luft, die mit ihnen hereinströmte, roch würzig, nach Frühling. Ich strich über die Tasten, schlug ein paar Harmonien an. Gut gestimmt,

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