Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
Wäschekommode. Im Haus ist es still geworden, es ist schon beinahe Mitternacht, aber Theodor ist noch nicht ins Bett gekommen, auch er grämt sich und trauert, auf seine Art, die so anders ist als ihre, das weiß sie. Sie streift ihren Morgenrock über und schleicht an den Zimmern der Kinder vorbei nach unten. Bevor sie das Studierzimmer betritt, erhascht sie an der Garderobe einen flüchtigen Blick auf ihr Spiegelbild, und für den Bruchteil von Sekunden glaubt sie, nicht diese leicht vornübergebeugte Frau mit den hängenden Brüsten darin zu sehen, sondern ihr albernes eitles Jungmädchengesicht, das sich um eine Ohrfeige sorgt und sich schwört, dass es Hermann nicht küssen wird, weil er nicht hübsch genug ist und aus dem Mund riecht. Und sie wünscht sich so sehr, dass sie ihn um Verzeihung bitten könnte. Nicht dafür, dass sie Theodor das Jawort gegeben hat, denn sie wäre nicht glücklich geworden mit Hermann, das weiß sie. Aber dafür, dass sie zuließ, dass die Politik einen Keil zwischen sie trieb, dass sie seine Warnungen nicht ernst nahm. Dass sie ihm diese nichtssagenden Briefe ins Lager geschrieben hat, ja ihn sogar gescholten hat, weil er so unbelehrbar war, und dass sie sich ärgerte, weil er nicht antwortete.
Sie öffnet die Tür zur Wohnstube, die leer ist und kalt, tastet sich im Dunklen weiter zum Studierzimmer, wo Theodor reglos mit entsetzlich krummem Rücken am Schreibtisch sitzt. Nicht einmal Licht hat er angemacht, nur eine Kerze entzündet.
»Ich bin wieder auf, Theo.«
Er zuckt zusammen, war offenbar zu versunken in seine Gedanken, um ihre Schritte zu hören.
Sie geht zu ihm und legt ihre Hände auf seine Schultern, fühlt seine Anspannung durch den rauen Stoff des Jacketts.
»Er war der bessere Mann von uns beiden, Elise.« Er sieht sie nicht an, greift nicht wie sonst nach ihren Händen.
»Es gab immer nur dich für mich, von Anfang an.«
Er antwortet nicht und sitzt immer noch reglos, aber dann, gerade als sie sicher ist, dass sie dieses brütende Schweigen nicht länger aushält, nickt er und tastet nach ihrer Hand, und sie sieht, dass er in der Bibel gelesen hat, im Buch der Prediger, und dass sich in seine Wangen Falten gegraben haben. Wann ist das passiert? Nie zuvor hat sie die bemerkt, aber es war ja auch immer so vieles zu tun, und seit Krieg ist und Theodor den Bescheid erhielt, dass er zur Reservearmee gehört, schläft er wieder schlecht und wütet mit den Kindern, vor allem mit Amalie.
»Du zitterst ja.«
»Ich habe vergessen, Schuhe anzuziehen.«
Er zieht sie auf seinen Schoß und in dem Moment, in dem seine warmen, großen Hände die ihren umschließen, merkt sie erst, wie kalt ihre Finger geworden sind, ganz eisig.
»Du darfst dich nicht nach Ludwigslust versetzen lassen, auch wenn Wilhelm das möchte.«
»Und wie soll ich das machen?«
»Ich weiß es nicht.« Sie lehnt sich an ihn. »Aber dort wären wir seine direkten Nachbarn, und auch deine Eltern warnen schon lange –«
»Wir können nicht mehr zurück, Elise.« Seine Stimme ist tonlos.
»Aber wir müssen.«
»Du weißt nicht, wie sie sind.«
»Doch, das weiß ich.«
Er schüttelt den Kopf, starrt erneut auf die Bibel. Er hat im 4. Buch der Prediger gelesen, er hat sogar etwas unterstrichen, die ersten beiden Verse. Elise lehnt sich vor. Theodor kennt die Heilige Schrift so gut, wie oft hat er ihnen mit den Zitaten schon die Richtung gewiesen und ihnen Halt und Trost gespendet, ihnen und der Gemeinde. Doch diesmal verstärken die Verse nur diese Hoffnungslosigkeit, die sich in ihr eingenistet hat, diese kalte, bodenlose Trauer.
›Wiederum sah ich alles Unrecht an, das unter der Sonne geschieht, und siehe, da waren Tränen derer, die Unrecht litten und keinen Tröster hatten. Und die ihnen Gewalt antaten, waren zu mächtig, sodass sie keinen Tröster hatten. Da pries ich die Toten, die schon gestorben waren, mehr als die Lebendigen, die noch das Leben haben.‹
Teil III
HÜHNERGOTT
18. Rixa
Ich bog in eine Allee blühender Kastanien ein und drehte Tschaikowsky lauter, was meiner Fahrt durch den himmelblauen Frühlingstag etwas Beklemmendes gab, wie der unheilschwangere Soundtrack eines Films, der die Zerstörung eines gerade erst liebevoll inszenierten Leinwandidylls einleitet. Tschaikowskys Fünfte, die Schickalssinfonie, die mein Großvater geliebt hatte, dieser Mann, der vielleicht gar nicht mein Großvater war. Ich wollte das nicht. Ich wollte nicht die Enkelin eines Vergewaltigers
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