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Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Titel: Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
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flüchtigen Kontakten beim Einkaufen in Güstrow und gelegentlichen Telefonaten einmal abgesehen. Das Pfarrhaus kam mir viel zu groß vor, riesig, eine Hülle, in der ich dahindriftete, haltlos für immer, weil ich nie in sie hineinwachsen würde.
    Und dennoch blieb ich und hielt das aus. Ich tünchte die letzten Wände des Erdgeschosses. Ich putzte die Bäder und Böden und Fenster und verteilte die wenigen Möbel. Ich blätterte in Fotoalben. Ich lackierte die Haustür im selben Blaugrün wie die in Poserin, sodass das Hakenkreuz verschwand. Ich befragte den Schreiner Boltenstern nach Ann Millner und ließ ihn eines der Regale bauen, die er für sie entworfen hatte, und außerdem ein Podest für meine Matratze, damit ich beim Aufwachen den See sehen konnte. Hin und wieder kam Moni vorbei und brachte mir Kuchen oder Pizza ins Pfarrhaus oder Frischhaltedosen aus buntem Plastik, in denen sich selbst gekochte Eintöpfe und Suppen befanden, als hätte sie Angst, ich würde ohne diese Unterstützung verhungern oder wieder verschwinden. Ich kochte ihr Tee oder schenkte ihr ein Glas Wein ein. Zuerst nur aus Pflichtgefühl, doch nach einer Weile begann ich sie zu mögen.
    Der Abschlussbericht der Polizei ließ offen, ob meine Mutter mit Absicht zur Geisterfahrerin geworden war. Ich bezahlte die Rechnung von ihrer Beerdigung und von der Wohnungsauflösung und überwies die 281,52 Euro, die danach von den Lebensersparnissen meiner Mutter übrig waren, an den Katzenschutzverein. Ich wickelte ihr Leben ab. Ich vernichtete ihre Spuren, und das kam mir vor, als ließe ich sie noch einmal sterben. Du bist zu viel allein, sagte Alex, als ich ihm das erzählte. Quäl dich nicht so, werd nicht melodramatisch
.
Und als ich nichts erwiderte, seufzte er und fing an, von den Fortschritten seiner Forschungen zu berichten, und eine Weile hörte ich ihm zu und dachte an Ivo, und wie er früher, wenn Alex ins Dozieren geriet, hinter seinem Rücken die Augen aufgerissen hatte und stumme Luftblasen zwischen den Lippen platzen ließ und die Arme an den Körper presste und mit den Händen wedelte, als sei er ein Fisch auf der Flucht vor einem Angler.
    »Weißt du noch, wie du Ivo und mir mal von diesen Fischen mit den Wanderaugen erzählt hast, um uns Angst einzujagen?«, fragte ich.
    »Plattfische meinst du. Wie kommst du denn jetzt darauf?«
    »Keine Ahnung.«
    Ich lächelte, als Alex erneut zu dozieren begann. Dass man zwischen Butten und Schollen unterscheide. Dass die Butte ihre Augen links trügen und deshalb auch Linksaugen-Flundern genannt würden, während die Augen der Scholle sich auf ihre rechte Körperseite verlagerten, obwohl die Scholle dennoch und also fälschlicherweise als Goldbutt bezeichnet würde. Aber das Prinzip sei bei allen Plattfischen das gleiche: Weil sie ihr Leben zumeist halb vergraben im Sand oder Schlamm des Meeresgrunds verbrächten, passten sich ihre Körper diesen Bedingungen an, sowohl in der Färbung, als auch physiognomisch. So seien sie perfekt getarnt und könnten, quasi auf dem Bauch liegend und ohne verräterische Kopfbewegungen, nach oben spähen. Alex fand das genial, nannte es einen Beweis für den Einfallsreichtum der Natur, die Finesse der Kreatur, sich auch unter schwierigsten Bedingungen gegen Feinde aller Art zu behaupten. Aber mir kam das Schicksal der Flundern auch aus erwachsener Perspektive eher beängstigend vor, wie eine Deformation, und als ich das sagte, begannen wir genauso zu streiten wie früher.
    »Die Natur ist so, Rixa. Alle passen sich an, immer wieder. Es gibt auch Fische, die ganz ohne Licht existieren können, Pflanzen, die jahrelang ohne Wasser überdauern, und der Mensch –«.
    »Genug«, sagte ich. »Lass es gut sein, ich habe verstanden.«
    Aber ich teilte Alex’ Überzeugung nicht, dass die Anpassungsfähigkeit ein unbedingtes Zeichen von Stärke sei, und nachdem wir uns verabschiedet hatten, saß ich für den Rest dieser Nacht hellwach am Fenster und zählte meine Atemzüge und versuchte, den See zu erkennen, an dessen Ufer meine Großmutter einst Laken und Hemden gespült hatte. Sommers wie Winters. So oft, dass ihre Finger die eisige Kälte des Wassers irgendwann nicht mehr fühlten. Und ich dachte an meine Mutter, wie sie in Berlin allein gewesen war, immer allein und ohne zu klagen oder Besuche ihrer beiden noch lebenden Kinder zu erwarten.
    Einsamkeit, vielleicht hatte Alex ja recht. Vielleicht tat sie mir nicht gut, machte mich sentimental. Und vielleicht war diese

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