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Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Titel: Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
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dort saßen weitere Retzlaff-Cousins beieinander, Markus’ Brüder Pius und David, und Elisabeths Sohn Peter stand ein paar Meter weiter und gab den Grillmeister, genau wie früher. Nur dass sie mich jetzt ansahen, als wäre ich eine Außerirdische.
    »Ich war – nach Ivos Tod. Es tut mir leid, aber ich konnte einfach nicht mehr kommen, es ging nicht«, erklärte ich, als das erste Hallo überstanden war.
    »Und jetzt geht es doch wieder?« Pius, natürlich, der Vorlaute, er fasste sich als Erster.
    »Setz dich doch erst mal.« Markus, ganz der sozial versierte Herr Pastor, den so schnell nichts aus der Fassung bringen kann. »Willst du ein Bier?«
    »Unbedingt, ja.«
    »Wir feiern nämlich gerade meinen Geburtstag.«
    »Oh, herzlichen Glückwunsch.« Das Bier war zu warm, wie damals. Wir prosteten uns zu. Lübzer Pilsner. Warmer, bitterer Schaum. Ich schluckte ihn runter, trank noch einen Schluck. Ein großes Haus. Kinder. Die Geschwister in der Nähe. Der Name seines Vaters, der gleiche Beruf. Kontinuität. Vielleicht lag es daran, dass ich mich nicht mehr gemeldet hatte, aus Angst, das nicht ertragen zu können, weil diese Welt einfach zu idyllisch war.
    »Petra und ich haben uns letztes Jahr getrennt, falls du dich fragst, warum ich meinen Ehrentag in trauter Männerrunde begehe«, sagte Markus.
    »Oh, tut mir leid.«
    »So ist das Leben.«
    »Heute, ja.«
    Wir aßen Männeressen: Würstchen und Steaks und verkohlte Kartoffeln mit Butter, und wir tranken noch mehr Bier dazu, fanden alte Scherze wieder, Neckereien, unser altes Geplänkel, die raue Herzlichkeit der Retzlaffs.
    »Die wilde Ricki – wirklich und wahrhaftig!« Pius lehnte sich mit einem wohligen Stöhnen in seinen Stuhl und musterte mich.
    »Ich war nie so wild, wie du immer behauptet hast.«
    »Von wegen. Du hast die gesamte männliche Jugend Zietenhagens wild gemacht. Letztes Jahr an Peters Geburtstag haben wir noch in Erinnerungen an dich geschwelgt und dich digital ganz groß rausgebracht!«
    »Wie bitte?«
    Er grinste und pulte ein Smartphone aus seiner Hosentasche. »Ich hatte zur allgemeinen Belustigung ein paar alte Schätzchen gescannt. Auch eins von dir. Hier, guck mal!«
    Ein jüngeres Ich von mir, mit sechzehn im knallroten Bikini auf einem Palästinensertuch. Ivo lag auf dem Bauch, ein paar Meter entfernt. Rainer, meine Dünenliebe, direkt neben mir auf dem Rücken. Der grüne Helm, den immer ich trug, wenn er mich auf seiner Schwalbe zum Meer kutschierte. Mein offener Blick, geradewegs in die Kamera. Lächelnd. Wir konnten uns nicht vorstellen, dass die DDR aufhören würde zu existieren und wir alle uns aus den Augen verlieren und Träume aufgeben würden, und erst recht nicht, dass einer von uns einfach so sterben würde, innerhalb von Sekunden, in einer Januarnacht auf der Autobahn.
    Ich starrte das Bild an, dachte an Amalie und meinen Großvater, sah zugleich jedes winzige Detail meines eigenen Ostseesommers vor mir. Wie waren die anderen damals an den Strand gekommen, wie Ivo? In irgendeinem Trabant? Mit dem Fahrrad? Ich weiß es nicht mehr, es interessierte mich nicht. Ich flog mit Rainer durch die Alleen, die Arme um seine Taille geschlungen, die Wange an seinem Rücken. Schlaglöcher, Staubwege und Kopfweiden. Das Waldstück, das man nicht betreten durfte, weil es Militärgebiet war. Lichtflirrende Schatten und endlose Felder, dann der Sand unter meinen Füßen, Rainers Hand, der mich in die Dünen führt. Die erste Feuchtigkeit zwischen meinen Beinen. Lust, die ich noch nicht einschätzen konnte. Nie hatte meine Mutter mit mir darüber gesprochen, immer nur über die Gefahren: Schwangerschaft, Krankheiten, Vergewaltigung.
    »Jetzt hat’s ihr die Sprache verschlagen«, konstatierte Pius und lachte.
    Aber als ich von Amalie und Sellin erzählte, ihnen die Fotos aus der Sakristei zeigte und von meinem Rauswurf bei Tante Elisabeth berichtete, wurde auch er ernst. Und dann forschten wir eine Weile in unseren Erinnerungen nach möglichen Indizien und kamen zu keiner Entscheidung darüber, ob es tatsächlich möglich sein könnte, dass meine Mutter die Tochter von Amalie und meinem Großvater war, auch wenn es all unseren Wahrnehmungen von früher widersprach und undenkbar war. Zu abstoßend, zu entsetzlich.
    »Deine Mutter war vor etwa zwei Jahren mal bei meiner«, sagte Peter, nachdem wir eine Weile geschwiegen hatten.
    »Bei Elisabeth?«
    »Ja. Sie ist wohl unangemeldet gekommen, an einem Samstagnachmittag mit einem Mietwagen.

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