Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
wir mit unseren Cousins und Cousinen die drei Kilometer bis zur Ostsee geradelt. Über diese jetzt so ordentlich gepflasterte Straße, die damals nur eine löchrige Piste gewesen war, war Reiner mit seiner Schwalbe zum Pfarrhaus geknattert, um mich abzuholen. Reiner, ja genau, so hieß dieser Junge, der mich in den Dünen zum ersten Mal geküsst und im Wasser seine Gänsehauterektion an mich gepresst hatte, wenn seine Hände unter meine Bikinihose glitten, Reiner Bokoff, jetzt, hier in Zietenhagen fiel mir das wieder ein.
Ich lief den vertrauten Weg zum Pfarrhaus, blickte unwillkürlich hinauf zu den Fenstern der Einliegerwohnung, in der meine Großeltern ihre letzten Jahre verbracht hatten. Der Tod meines Großvaters war sanft gewesen und kam ohne Vorwarnung, dort oben, in ihrem Schlafzimmer. Nimm mich doch einmal in den Arm, Elise, bat er beim Zubettgehen. Und als meine Großmutter das tat, schloss er mit einem zufriedenen Lächeln auf immer die Augen, und kurz darauf begannen die Glocken des Kirchturms zu schlagen, als wollten sie Zietenhagens Protestanten zu einer nächtlichen Andacht rufen. Ein Kurzschluss in der Elektrik des Läutwerks, hieß es später, ausgelöst durch ein Sommergewitter, das sich über der Ostsee zusammenbraute. Doch wir Retzlaffs glaubten, dass die Seele von Großvater Theodor die Glocken noch einmal zum Klingen gebracht hatte, dass das sein letzter Gruß an den SED-Staat gewesen war: Nun seid ihr mich los, aber Gott wird nicht sterben, Gott sieht euch noch immer!
Ich lief am Pfarrhaus vorbei zu dem Haus, in dem mein Onkel Markus seit seiner Pensionierung lebte. Er öffnete nicht, konnte nicht öffnen, erklärte mir eine Nachbarin, weil er im Urlaub war.
Also doch zu Tante Elisabeth, dem emotionalen Seismografen der Retzlaff-Geschwister. Ich wusste, dass es keine gute Idee war, gerade sie mit meinem Verdacht und diesen Fotos zu konfrontieren, weil sie vermutlich nur wieder in einem Tränenmeer zerfließen würde, sobald ich Amalies Namen auch nur erwähnte. Doch ich hatte mich getäuscht, meine sonst immer so sanftmütige Tante begann nicht zu weinen, sie schrie und verwies mich des Hauses.
Ich will, dass du gehst, Ricarda, augenblicklich, sofort! Ich will solche Ungeheuerlichkeiten nicht hören!
Wie ein geprügelter Hund schlich ich wieder nach draußen.
Und jetzt, Rixa, was machst du jetzt? Ich betrachtete das Grab meiner Großeltern, setzte mich für ein paar Minuten in die Kirche. Jahrelang war ich in keinem Gottesdienst mehr gewesen, nun gehörten zumindest Kirchbesichtigungen beinahe zu meinem Alltag. Ich strich über das dunkle Holz der Bank, in der wir Hinrichs als Halbwüchsige mit den etwa gleichaltrigen Kindern von Markus und Elisabeth gesessen hatten. Wir waren uns nah gewesen, Verbündete von klein auf, Cousins und Cousinen. Wir hatten uns im Gottesdienst auf ein Nicken von Onkel Markus von dieser Bank erhoben, um vierstimmig Kirchenlieder zu intonieren, egal wie übermüdet und verkatert wir von unseren nächtlichen Gelagen auch waren. Und dann wurden wir erwachsen, und die Ostler heirateten und bekamen Kinder, und wir Westler eher nicht, was uns nicht daran hinderte, dennoch in Kontakt zu bleiben. Erst als Ivo starb, hatte ich mich ausgeklinkt. Ohne Erklärung, ohne je zurückzukommen, ohne auf ihre gelegentlichen Briefe oder Anrufe oder Postkarten und Mails zu reagieren.
Ich stand auf, ging zurück zu meinem Transit, lenkte ihn Richtung Ostsee, zu dem Haus, das mein Cousin Markus nach der Wende gekauft hatte. Der kleine Markus, wie er in unserer Familie hartnäckig genannt wurde, obwohl er seinen Vater schon mit fünfzehn um einen Kopf überragt hatte. Das Haus lag einsam, ein ehemaliger Bauernhof mit Reetdach. Retzlaff, ich drückte auf die Klingel. Dies hier konnte unmöglich schlimmer werden als mein nächtlicher Überraschungsbesuch in Piets Atelier und Wolles Kreuzverhör, und falls doch, würde ich auch das überstehen.
Ich hörte den Klingelton, dann schnelle Schritte.
»Das glaub ich jetzt nicht!« Markus selbst öffnete mir die Tür.
»Darf ich reinkommen?«
»Ja, aber sicher.«
Er umarmte mich ungelenk, zog mich ins Haus.
»Es tut mir sehr leid, dass deine Mutter gestorben ist. Ich habe sie immer gemocht, meine stille Tante Dorothea.«
»Danke.«
»Bist du deshalb hier?«
»Das ist eine längere Geschichte.«
Ich folgte ihm durch den Flur ins Wohnzimmer und von dort in den Garten. Es kam mir vor, als schleuste er mich durch eine Zeitmaschine, denn
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