Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
Ich hatte gerade die Kinder bei meiner Mutter abgeliefert, deshalb habe ich das mitbekommen.«
»Und?« Mein Mund war auf einmal sehr trocken.
»Sie war total durch den Wind. Verwirrt. Sie hat mich dreimal gefragt, wer ich denn noch mal wäre, und dann saß sie mit uns am Kaffeetisch und guckte immer nur auf ihren Teller, ohne irgendwas zu sagen.«
»Und dann?«
»Bin ich losgefahren, schließlich war Wochenende, und Annika und ich wollten nach Hamburg, deshalb sollte meine Mutter ja auf unsere Kinder aufpassen.«
»Und das war alles?«
»Als ich die beiden am nächsten Morgen wieder abholte, war deine Mutter schon weg. Aber meine Mutter war jetzt ebenfalls neben der Spur und hatte verquollene Augen.«
»Was war passiert? Hatten sie sich gestritten?«
»Ich weiß es nicht, das wollte sie mir nicht sagen. Aber sie war wirklich ziemlich von der Rolle. Sie hatte nicht einmal gehört, wie ich geklingelt habe, deshalb hab ich meinen eigenen Schlüssel benutzt. Und da saß sie dann fast wie weggetreten im Wohnzimmer und hörte eine Oper. Mitten am helllichten Vormittag, und die Kinder hockten vor dem Fernseher, dabei erlaubt sie ihnen das sonst nie.«
»Eine Oper. Was für eine Oper?«
»Weiß ich nicht mehr. Irgendeine Amerikanerin sang irgendwelche Arien.«
Eine Amerikanerin. War das Amalie? War sie Ann Millner? Meine Internet-Recherchen nach Ann Millner hatten aber keinen Treffer für eine Opernsängerin dieses Namens ergeben.
Ich schwitzte. Ich fror. Ich stellte meine Bierflasche auf den Tisch, weil meine Hände sich auf einmal ganz schwach anfühlten, unfähig, sie noch länger festzuhalten.
»Hast du die CD gesehen? Wie hieß diese Sängerin, weißt du das noch?«
»Weiß ich nicht mehr, das war nicht mein Fall. Irgendein alberner amerikanischer Name.«
»Hat deine Mutter diese CD noch?«
»Das nehme ich an.«
»Würdest du die wiedererkennen?«
»Ich glaub schon.«
»Hol sie her.«
»Wie bitte?«
»Hol die CD her. Bitte.«
»Jetzt?«
»Ja.«
Er zögerte, stand dann aber auf und sah Markus an. »Leihst du mir dein Fahrrad?«
»Ja, klar.«
Niemand von uns sprach, während wir auf seine Rückkehr warteten. Vier Kilometer per Rad, zwei hin, zwei zurück. Nicht sehr viel, eine Ewigkeit. Ich stand auf, lief ans Ende des Gartens, dann wieder zurück. Ich schloss mich im Bad ein, lehnte mich an die Kacheln, sah mir ins Gesicht. Mein Herz pumpte laut, das Blut rauschte in meinen Ohren. Angst war das. Angst und auch Hoffnung. Die Hoffnung, dass sich jetzt, gleich, in den nächsten Minuten, endlich alles erklären würde. All diese Sehnsucht in mir, dieses Schweigen der Retzlaffs und das meiner Mutter. Ihr Tod, ja vielleicht sogar Ivos.
»Rixa, bist du da drin?«
»Ich komme, ja.«
Schritte wie auf Watte, meine Hand, die sich um ein CD-Cover schließt.
The Love of Singing.
Amy Love. Es war so einfach, so simpel, jetzt, da ich es wusste. Amy. Amalie. Retzlaff. Love. Die verschwiegene Tochter. Ein amerikanischer Opernstar.
»Habt ihr hier Internet?«
Wortlos reichte mir Pius sein Smartphone. Sie lebte in Kanada. Sie lebte.
Elise, 1945
Ein Geräusch weckt Elise auf, sie weiß nicht, was das war. Das Knarren der Dielen, eine Tür, oder kam es von draußen? Sie liegt reglos und lauscht. Sind das Schritte im Kies? Ja. Nein. Seit zwei Wochen ist Frieden, aber die Angst ist nur eine andere geworden. Jetzt müssen sie nicht mehr fürchten, dass die SA kommt, um sie zu holen, jetzt kommen Panzer, Soldaten, die Befreier, die neues Leid säen, und die Flüchtlinge aus dem Osten.
Wieder das Knarren. Jemand hustet. Das Pfarrhaus ist voll, übervoll, gehört ihr nicht mehr, in jedem Zimmer drängen sich Fremde, und wenn die wieder weiterziehen, fehlt oft etwas vom Hausrat oder von der Wäsche, als hätten die Russen nicht schon schlimm genug gewütet, während sie sich noch in der Kirche versteckten. Aber was soll man machen, man kann diese Menschen aus den Ostgebieten nicht wegschicken, wenn sie an die Tür klopfen, sie haben ja alles, wirklich alles verloren und können sich meistens kaum noch auf den Beinen halten. Das Konfirmandenzimmer und das Speisezimmer haben sie für die Flüchtlinge freigegeben. Auch die Kinder mussten zusammenrücken, alle sieben in zwei Kammern, in der Obhut Amalies. Die Kinder, die ihr noch geblieben sind, denn weder von Richard noch vom kleinen Theo gibt es bislang Nachricht.
Theodor liegt nicht neben ihr im Bett, plötzlich wird Elise das bewusst. Sie öffnet die Augen, setzt
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