Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
sich auf. Der Mond steht über dem See und wirft bläuliche Schatten. Der Wind rüttelt am Dach. Die Axt liegt auf Theodors Nachttisch. Also ist er nicht zur Haustür geschlichen, weil er draußen Soldaten bemerkt hat. Aber wo ist er dann?
Die Dielen sind kalt unter ihren bloßen Füßen. Trotzdem zieht sie keine Schuhe an, denn sie muss ja leise sein, um niemanden zu wecken. Elise schleicht in den Flur. Alles ruhig, alles dunkel. Aus dem Konfirmandenzimmer dringt gedämpftes Schnarchen. Jemand stöhnt im Schlaf. Eine Frau, Clara? Nein, hinter der Tür des Dienstmädchenzimmers, in dem sie die Freundin untergebracht haben, ist alles friedlich. Elise streicht ganz sacht über den Türrahmen. Zum Glück hat Clara es aufgegeben, mit ihrem irrsinnigen Mann in dieser Scheune zu hausen und nachts um ihr Anwesen zu schleichen, um dessen Besatzer zu beobachten und ihr Hab und Gut zu verteidigen, ja wenn möglich sogar zurückzuerobern, wie Franz von Kattwitz das allen Ernstes vorhat. Wie lange wird Clara noch bei ihnen im Pfarrhaus bleiben? Ihre Mutter ist mit Melinda und Heinrich gen Westen gezogen, irgendwo im Badischen oder Rheinischen gibt es wohl noch eine Tante. Clara soll dorthin folgen, wenn es hier nicht besser wird. Aber noch haben sie nichts gehört, noch ist sie hier bei ihnen, sie ist solch eine Stütze in diesen schweren Zeiten.
Die Küche ist verschlossen, der Schlüssel liegt in Elises Nachttischschublade. War es leichtsinnig von ihr, ihn dort zu lassen? Unsinn, sie ist ja nur für ein paar Minuten auf, sie will nur kurz nach Theodor sehen.
Ihr Schatten huscht hinter ihr her, als sie in die gute Stube schleicht. Sie ist leer, das sieht sie augenblicklich, denn der Mond ist voll und so hell, dass sie sogar die Schnitte in den Sitzen ihrer Biedermeiersitzgruppe erkennt, schwarz klaffende Wunden, die die Soldaten hinterlassen haben, aus blinder Zerstörungswut oder weil sie Geld oder Schmuck in den Polstern vermuteten, man kann das nicht sagen. Sie haben auch alle Fotoalben und Briefe und Schallplatten zertrampelt und zerfleddert. Und die schöne chinesische Bodenvase mit den Paradiesvögeln, die in Leipzig als Schirmständer diente, ist wohl auch nicht mehr zu retten. Tagelang haben diese Barbaren die als Klosett benutzt, nun steht sie in der Scheune, doch wer will sie säubern?
Theodor wird wohl nebenan in seinem Studierzimmer über seinen Notizbüchern sitzen, wie so oft, wenn ihn seine Nachtgeister plagen. Er führt Listen über all die Menschen, die er beerdigen muss. Er versucht, ihnen gerecht zu werden und Kunde von ihnen für die Nachwelt festzuhalten, und immer noch müht er sich, am Grab jedes Einzelnen ein persönliches Wort zu sprechen.
Soll sie ihn stören oder nicht? Mit der Hand auf der Türklinke hält Elise inne, erstarrt. Ein leises Wimmern dringt aus dem Studierzimmer, ein Winseln, rhythmisch, flehend.
Das kann nicht das sein, was sie denkt, das ist ganz unmöglich, nicht in Theodors heiligem, ureigenem Reich, dem einzigen Rückzugsort, der ihm in seinem Haus noch geblieben ist, nein, bestimmt nicht. Sie hält den Atem an, presst ihr Ohr an die Tür. Sie halluziniert, jetzt ist es drinnen still. Nein, doch nicht. Die Frau wimmert erneut, ein leises Quietschen mischt sich dazu, ebenfalls rhythmisch, dann eine zweite Stimme, flüsternd, heiser. Eine Stimme, die sie so gut kennt, die ihr so lieb ist, die aber dort drinnen so, auf diese Weise, unmöglich erklingen kann –.
»Du … du!«
Fort von der Tür muss sie, hinaus auf die Veranda, zum Fenster des Studierzimmers. Etwas schneidet ihr in die Ferse, aber das ist ganz gleichgültig, sie muss sich auf die Zehenspitzen stellen und an der Fensterbank hochziehen und die Augen öffnen. Der Mond ist so hell, so furchtbar hell, alles kann sie sehen, wirklich alles: Den Schreibtisch mit der Rose und der Bibel darauf und die Bücherwand und die Chaiselongue. Theodors bleiches Gesäß, das zwischen den Schenkeln der Frau auf und nieder fährt, sein Lächeln, als er plötzlich innehält und kurz zur Seite schaut, sein Glück.
Betrug. Verrat. Der Wahnsinn, das ist er! Der Wahnsinn, vor dem sie der Vater einst bewahren wollte. Den sie längst vergessen und überwunden glaubte. Denn es ist ein Bild des Wahns, das sie da gerade gesehen hat. Und es ist ein noch viel größerer Wahn, der ihre Füße nun zurück ins Pfarrhaus lenkt, durch das Verandazimmer in den Flur und die Treppe hinauf, an den Schlafstuben der Kinder vorbei unters Dach.
Die Juden
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