Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
diese Weise stoppen kann? Würde Gott das verzeihen? Dietrich Bonhoeffer sagt, ja. Clara auch. Und so, wie es steht, hätte wahrscheinlich sogar Hermann dem zugestimmt. Oder nicht? Sie weiß es nicht, Theodor weiß es auch nicht. Aber wenn doch durch einen einzigen Mord so viele Leben gerettet werden könnten, ist dieser Verstoß gegen das fünfte Gebot vielleicht gar die Pflicht eines Christenmenschen? Müßig, darüber nachzudenken, es hat nicht sollen sein, Adolf Hitler hat das Attentat im Juli überlebt, statt seiner ließen die, die ihn stoppen wollten, ihr Leben, viele, so viele. Wer soll jetzt noch einmal die Kraft aufbringen, es erneut zu wagen?
Und so geht das große Sterben weiter: auf den Schlachtfeldern, in den Lagern und in all den einst so schmucken, stolzen Städten, die die Bomben der Engländer und Amerikaner in Schutt und Asche legen, auch Leipzig, ihr Leipzig.
Ihr Elternhaus. Die Kirche, in der sie getauft und konfirmiert wurde, das Gewandhaus – fort, alles fort. Nein, sie darf sich das nicht immer wieder ausmalen, denn dann wird sie verrückt, und sie muss doch stark bleiben, für ihre Kinder.
Die Kinder, ja. Auch Clara ist ratlos, wenn Amalie ihre Launen hat, dabei haben die beiden sich so gut verstanden. So gut, dass sie beinahe neidisch wurde, zumal Theodor nun auf einmal die Musikalität der beiden überschwänglich zu loben begann. Oft und oft hat Clara ihr geholfen, Amalie zu lenken. Aber in letzter Zeit weiß auch sie keinen Rat mehr, und Amalie ist störrisch und weigert sich, preiszugeben, was ihr nun wieder auf dem Herzen liegt. Allein Theodor kann sie dann manchmal noch zur Vernunft bringen, wenn auch nur unter Androhung roher Gewalt. Nein, man weiß mit diesem Mädchen wirklich nicht mehr weiter.
Die Orgel setzt wieder ein, verharrt auf einem Akkord, wiederholt sich noch einmal, zieht die Liedzeile in die Länge. Amalies Solo, ihr Einsatz! Ist sie etwa – Elise fährt herum, nein, sie ist da, an ihrem Platz. Aber sie singt nicht, auch dann nicht, als Clara den Liedanfang noch einmal für sie anspielt.
Großer Gott wir loben Dich.
Das ist doch nicht so schwer, dieses Lied kennt Amalie doch in- und auswendig, warum setzt sie denn nicht ein? Etwas in Elises Brust krampft sich schmerzhaft zusammen. Da oben auf der Empore steht ihre Tochter und weint, ohne den winzigsten Laut von sich zu geben.
21. Rixa
Die Spitzenlitze, die die beiden Fotos aus der Blechdose zusammenhielt, passte exakt zu der, mit der auch die Haarlocke aus dem Tresor meiner Mutter gebunden war. Die Frau auf dem Foto war dieselbe. Die Handschrift der Widmung war die meines Großvaters. D. Dorl. Theodor. Daddy würde es ja wohl nicht geheißen haben, mitten im Krieg gegen England und Amerika. Oder täuschte ich mich? Aber ganz ohne Zweifel war mein Großvater dieser Mann in der Badehose. Und er liebte Tschaikowskys fünfte Sinfonie. Dunkel und unheilschwanger. Das Schicksal, das alle hinfortreißt, der Walzer, der sich dagegenstemmt, sich noch einmal aufbäumt und dem Sog letztlich doch nicht entkommt, sich fügen muss, sich ihm unterordnen, mit ihm verschmelzen.
Ich schlief nicht, nachdem wir die Fotos in der Sakristei gefunden hatten, oder wenn ich doch einmal einnickte, war das nicht erholsam, weil sich meine Gedanken nicht abstellen ließen. Amalie, Amalie – was war in ihr vorgegangen? Sie sah glücklich aus, wie sie da auf dem Felsen saß. Beinahe keck blinzelte sie in die Kamera, ganz und gar nicht wie ein verhuschtes, von seinem Vater missbrauchtes Mädchen, sondern wie eine junge Frau, die sich ihrer Reize durchaus bewusst ist, nicht aufdringlich, sondern auf eine beinahe beiläufige Art. Eher wirkte mein Großvater so, als fühlte er sich nicht ganz wohl in der Badehose, eher entblößt, verletzlich.
Vielleicht war ja auch alles ganz harmlos. Ein Junitag 1944. Vater und Tochter hatten einen Ausflug an die See gemacht. Ein Tag des Glücks, mitten im Krieg, ohne zu ahnen, dass diese Tochter nur wenige Jahre später tot sein würde. Sie hatten Hühnergötter gesucht und gebadet und im warmen Sand gelegen und schließlich diese Fotografien aufgenommen und entwickeln lassen, als Andenken. Mein Großvater hatte die Widmung auf die Rückseite seines Fotos geschrieben und es meiner Großmutter geschenkt – denn ja, diese pathetische Liebesbotschaft stand auf seinem Foto, nicht auf dem von Amalie. Und dann, als Amalie tot war und niemand mehr von ihr sprechen sollte, und sie Sellin verließen, hatte er diese
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