Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
sind fort, wohin auch immer, nur ihre Strohsäcke liegen noch in der Ecke. Aber die Kinderschaukel, die die früheren Bewohner dieses Hauses am Gebälk befestigt haben, hängt noch dort und die Leinen, auf denen sie die Wäsche trocknete, bis sie für die Juden Laken darüber spannte, um ihnen ein wenig Privatsphäre zu gewähren. Sie braucht ein Messer, um eine der Leinen loszubekommen. Nein, es geht auch so. Ihre Hände sind ganz ruhig und lösen die Knoten. Sie war so froh in dieser Winternacht, als Theodor sie nach so langer Zeit wieder begehrte. Sie hat gewusst, dass es gefährlich ist, ein schlechter Zeitpunkt, aber sie hat das riskiert. Für ihn, für sich, als Zeichen der Hoffnung. Denn was bleibt am Ende in all diesem Grauen, wenn nicht die Liebe?
Aber nun gibt es keine Liebe mehr, nicht für sie. Und die Haken, mit denen die Schaukel befestigt ist, werden sie tragen, das weiß sie. Sie kann sich die Leine um den Hals knüpfen und dann das andere Ende an den Balken knoten, wenn sie sich auf die Schaukel stellt und hochreckt. Und dann kann sie springen, das Brett, auf dem einstmals glückliche Kinder saßen, von sich wegstoßen. Es wird ganz schnell gehen und dann ist dieses Elend zu Ende. Sie wird nichts mehr fühlen und muss dieses Kind, das sie in sich trägt, niemals gebären.
Wie ist die Schlinge richtig und wie der Knoten? So wird es wohl funktionieren, ja, so sitzt sie fest, und die Leine liegt doppelt. Das Brett unter ihren Füßen, das raue Seil an den Handflächen. Sie fühlt das und fühlt es nicht, beides zugleich. Als Mädchen hat sie es geliebt zu schaukeln. Im Connewitzer Forst hinter dem Wald-Café. Wie ihre Röcke da flogen und wie sie lachte. Und die Eltern winkten und sorgten sich doch, ob ihr auch nichts geschehe, so wie sie es immer getan haben, ach, die guten Eltern.
Ganz stramm muss sie das Seil ziehen, bevor sie es festknotet, denn wenn sie springt, dürfen ihre Füße auf keinen Fall noch einmal den Boden berühren. Elise schließt die Augen, als ihr das gelungen ist, hört den Wind auf den Ziegeln, das Ächzen des Dachstuhls, hört Schritte und Schreie.
Elise springt, ohne die Augen zu öffnen, aber jemand greift nach ihr, hält sie und umklammert ihre Beine und schreit immer weiter.
»Nein, Mutter, nein!«
Amalie, ausgerechnet Amalie.
22. Rixa
Das Flugzeug sank tiefer, zitterte, fing sich. Flecken von Grün jagten unter uns vorbei. Ein See. Eine Straße, Häuser. Natürlich bist du mir willkommen, hatte Amalie versichert, nachdem mir ihre Plattenfirma endlich ihre Telefonnummer verraten hatte. Und sie hatte geweint, als ich ihr vom Tod meiner Mutter berichtete. Und doch sei sie glücklich, ja, geradezu überglücklich, mich, Dorotheas Tochter, bald kennenzulernen.
Airport Toronto. Ein weiterer Flughafen, fremd und doch vertraut. Rolltreppen, Laufbänder, Gepäckausgabe. Lautsprecherdurchsagen auf Englisch und Französisch. Auf wie vielen Flughäfen in wie vielen Ländern war ich in den letzten Jahren gelandet? Ich hatte sie nicht gezählt, konnte das nicht mehr rekonstruieren. Viele, vielleicht zu viele. Ich bewegte mich wie auf Autopilot im Pulk der anderen Passagiere, fand eine Toilette und wusch mir Gesicht und Hände, sah mir einen Moment lang in die Augen. Würde ich hier in Kanada nun endlich die Antworten auf all meine Fragen erhalten? Neben mir putzte sich eine asiatisch aussehende Frau die Zähne, ließ mich an meine Ankunft in Berlin Tegel denken. Ewig schien das her zu sein, nicht sieben Monate.
Ich schulterte meinen Rucksack, wartete auf mein Gepäck, trat kurz darauf durch die Glastür in den Lärm der Ankunftshalle.
»Ricarda? Rixa?«
Die Frau, die auf mich zueilte, konnte unmöglich Amalie sein, sie war viel zu jung, allerhöchstens sechzig.
»I’m Ann. Amalie’s friend.«
»Ann Millner?«
Sie lächelte und schloss mich sehr behutsam in die Arme. »Amalie ist sehr aufgeregt, mehr als ihrem Herz guttut, und die Fahrt bis zu unserem Haus ist lang, deshalb wartet sie dort«, erklärte Ann auf Amerikanisch.
Eine lange Fahrt, was hieß das in einem so gigantischen Land wie Kanada? Die Sonne stand schon tief und färbte den Himmel pinkviolett, es war warm, ein perfekter Sommerabend.
»Wir leben am Eriesee«, erklärte Ann, als wir in ihrem Wagen saßen, einem großen bordeauxroten Schlitten mit Ledersitzen und Schiebedach, das sie jedoch nicht öffnete.
Musik perlte aus unsichtbaren Lautsprecherboxen, Schuberts
Impromptu Nr. 3, Opus 90.
in
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