Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
beiden Fotos und den Hühnergott in dieser Dose verstaut und ins Gemäuer der Sakristei geschoben. Vielleicht war das sein ganz persönliches Abschiedsritual gewesen, der Ersatz für eine Beerdigung, die es ja angeblich nicht gegeben hatte. Vielleicht war dieser 18. Juni 1944 der letzte unbeschwerte Tag ihres Lebens gewesen, oder jedenfalls der einzige glückliche Tag, von dem sie eine Fotografie hatten anfertigen lasssen.
Und meine Großmutter, Elise, was war mit ihr? Wenn die Liaison ihres Mannes mit ihrer ältesten Tochter doch nicht so harmlos gewesen war, wie ich es mir wünschte? Ich setzte mich auf, starrte auf das bläuliche Rechteck des Fensters und horchte auf Eikes Atemzüge und sein gelegentliches leises Schnarchen. Ich stellte mir meine Großeltern in diesem Zimmer vor, Seite an Seite in dem Ehebett mit dem schweren, dunklen Kopfteil, beide in ihren Nachtgewändern, nicht nackt wie Eike und ich.
Sie hatten sich geliebt, noch im hohen Alter, das war nicht zu übersehen gewesen. Als Kinder empfanden wir sie als Einheit, Philemon und Baucis, die es aus der griechischen Antike direkt in ein Mecklenburger Backsteinpfarrhaus verschlagen hatte. Sie saßen im Winter nebeneinander vor dem grünen Kachelofen, auf dem meine Großmutter diese herrlichen selbst genähten und befüllten Kirschkernsäckchen für uns wärmte, die sie uns danach in den eiskalten Schlafzimmern unter die riesigen schweren Federbetten schob. Sie saßen im Sommer nebeneinander auf der Veranda. Die winzige, vom Alter gebeugte Elise sah zu meinem Großvater auf, wenn er etwas sagte. Sie lächelte ihn an. Sie hielt seine Hand. Sie sorgte dafür, dass er bei Tisch immer ein schönes Stück Fleisch bekam. Er war ihr kostbar. Ihre Stimme war immer ganz sanft, wenn sie seinen Namen sagte, als sei dieser Hüne von einem Mann zerbrechlich. Sie holte noch mit achtzig im Nachthemd Regenwasser aus dem Garten für seinen Tee, und im Sommer schnitt sie ihm jeden Tag eine frische Rose für seinen Schreibtisch. Es konnte nicht sein, dass sie das alles getan hätte, wenn er ihre Tochter vergewaltigt hatte, es war schlicht nicht möglich.
Und doch war da diese Distanz zwischen ihr und meiner Mutter gewesen. Und sie waren erstarrt, als ich die
Winterreise
vorgetragen hatte. Und da war dieser Satz,
du bist nicht meine Tochter.
Und da war Amalie, die älteste Tochter, die Sängerin, verschwiegen, verdrängt.
Frag nicht danach, Ricki, das ist zu schmerzlich.
Ich sehnte mich nach meiner Mutter. Ich sehnte mich so sehr nach ihr, wie ich es manchmal als kleines Mädchen getan hatte, wenn ich mir wehgetan hatte oder mich vor etwas fürchtete oder ihr unbedingt etwas erzählen wollte, ihr, nur ihr, niemand anderen. Einmal war mir im Kindergarten plötzlich schlecht geworden, ich übergab mich immer wieder, und es dauerte ewig, bis meine Mutter endlich kam, um mich abzuholen, und als sie dann hereinstürmte und mich in die Arme schloss und damit in den vertrauten Maiglöckchenduft, war das eine Erlösung. Ich wünschte mir, ich könnte noch einmal ihre Arme um mich fühlen, oder, wenn das nicht ging, sie wenigstens anrufen. Einmal, nur noch einmal wollte ich ihre Stimme hören, diese leichte Ungeduld darin, wenn ich ihr meine kindlichen Albträume zuflüsterte.
Ach, Ricki, Mädchen, was du dir immer zusammenphantasierst. Quäl dich doch nicht so, das ist doch Unsinn.
Der nächste Tag war verhangen, milchweiß, auf den Wiesen und auf der Veranda stand das Wasser in blinden Pfützen. Ich fühlte mich benommen, hatte Schwierigkeiten, mich zu orientieren. Offenbar war ich doch noch eingeschlafen, Eike war schon bei dem Treffen mit seiner Band, hatte aber einen Zettel mit seiner Handynummer hinterlassen. Ich sah auf die Uhr, ich hatte lange geschlafen, traumlos und tief, es war schon Nachmittag. Ich duschte und zog mich an, versorgte Othello und kochte Kaffee. Ich briet die übrig gebliebenen Pellkartoffeln mit Zwiebeln und Paprika und zwang mich, das zu essen, weil ich Kraft brauchen würde für den Besuch bei meinem Onkel Markus.
Zietenhagen, ein weiterer Ort voller Erinnerungen, den ich nie wieder besucht hatte, nachdem Ivo gestorben war. Ein paar Kilometer außerhalb passierte ich ein Feld mit Windrädern, und natürlich gab es am Ortsrand die üblichen Lebensmitteldiscounter und Autohändler, doch das Panorama des Ortskerns war noch dasselbe, überragt von dem merkwürdig klobigen Kirchturm, in dessen Gebälk Falken und Eulen genistet hatten. Von hier aus waren
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