Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
ging.
Er hatte mich geliebt, mehr als Ivo und Alexander. Ich weiß nicht warum, warum gerade mich, niemand sprach das je offen aus, doch ich konnte es fühlen. Er hatte sogar mein Klavierspiel gemocht, obwohl er auch das niemals explizit sagte. Doch er hatte so eine Art, den Kopf ein wenig zu neigen und die Augen zu schließen, wenn ich ihm meine Etüden und Sonaten vortrug, es sah dann aus, als lauschte er nicht nur mir, sondern zugleich einer Begleitmelodie, die nur er hören konnte, und nur dann, wenn ich am Klavier saß. Er selbst spielte Geige, er konnte mittelschwere Noten und Partituren vom Blatt spielen und sein kräftiger Tenor schien bei der Liturgie regelrecht durch die Kirche zu schweben. Nie sang er falsch, mühelos führte er seine Gemeinde auch durch komplexe Kirchenlieder. Er liebte Musik, einmal sah ich sogar, wie seine Augen feucht wurden, was er natürlich sofort mit seinem riesigen Stofftaschentuch kaschierte. Aber ich bemerkte es doch: Tschaikowskys Fünfte, die Schicksalssinfonie, rührte meinen Opa zu Tränen. Tschaikowsky und Beethoven, das war seine Musik: Er mochte die Wucht und die großen Orchester, das tragische Moll der Bläser, die Pauken, die Streicher.
Er liebte Musik und er liebte sein Land, schien mit der Natur fast verwachsen, obwohl er in seinem Leben niemals so etwas wie Outdoorkleidung trug. Drei oder vier Mal bin ich mit ihm allein in den Wald gegangen. Dann schnitzte er mir einen Spazierstock und nahm mich an die Hand, und ich mühte mich, mit seinen langen Schritten mitzuhalten, damit mir auch keines der Wunder, die uns begegnen würden, entginge: der Eisvogel mit den Edelsteinfedern. Der Habicht am Himmel. Die knorrigen Eichen mit den Gesichtern. Die Anemonen im Buchenhain, die er Himmelssterne nannte. Der Nebel, der im Dämmerlicht aus den Wiesen wallte, Traumschleier wie in dem Matthias-Claudius-Lied, das er immer vor dem Schlafengehen anstimmte.
»Siehst du, mein Kind, wie schön unsere Heimat ist?«
Und ich nickte und sah. Saugte alles auf. Ich lernte den Warnruf des Eichelhähers erkennen, das Zirpen des Zaunkönigs, die Nachtigall und die Krähen, das Keckern der Amseln.
»Und weißt du auch, Kind, was die Amseln von den Staren unterscheidet?«
»Die Amseln sind schwarz!«
»Die Stare sind auch schwarz. Erst wenn man genauer hinsieht, erkennt man in ihrem Gefieder winzige Tupfen, und sie sind etwas kleiner.«
»Und wie singen Stare?«
»Das ist schwer zu sagen, man kann ihnen nicht trauen.«
Ich starrte ihn an. Die Stare glänzten so hübsch im Sonnenschein. Waren das wirklich heimtückische Vögel?
»Sie singen mal so und mal so, Mädchen, sie äffen die anderen einfach nur nach.«
»Warum machen sie das?«
»Gott hat sie so geschaffen.«
Die Dämmerung draußen nahm zu, kroch zu mir ins Wohnzimmer, reduzierte die Möbel zu Konturen. Irgendwann hatte sich der Kater, der während der Polizeivisite in seinem Schattenreich verschwunden war, wieder materialisiert, war in sein Körbchen gekrochen und schien sich zu entspannen. Doch als ich nun aufstand, krümmte er sich zum Sprung.
»Ist ja gut, ist ja gut.«
Ich musste telefonieren: mit den Retzlaffs, mit meinem Vater, doch stattdessen setzte ich mich ans Klavier und wünschte mir, ich wäre nicht hier, sondern auf der Marina. Ich fühlte Othellos Blick auf mir, abschätzend, wachsam. Ich klappte den Deckel hoch und strich über die Tasten. Mein erstes Klavier. Unzählige Stunden hatte ich daran verbracht. Ich hätte es so gerne mitgenommen, als ich auszog, ich hätte es gebraucht, konnte mir als Studentin kein eigenes leisten, aber meine Mutter ließ das nicht zu.
»Du kannst zum Üben doch jederzeit heimkommen, Rixa.«
»Aber doch nicht nachts.«
»Nachts musst du ja wohl auch nicht üben.«
»Muss ich doch.«
»Sei nicht so stur. Als ich in deinem Alter war, musste ich mich auch bescheiden.«
»Aber wenn ich nicht genug übe, schaffe ich das Examen nicht.«
»Du bist bei uns immer herzlich willkommen.«
»Aber das ist unfair, ihr braucht das Klavier doch überhaupt nicht!«
»Woher willst du das wissen?«
Ich schlug ein paar Terzen und Oktaven an. Das Klavier war verstimmt, wahrscheinlich seit Jahren. Als ich zum letzten Mal darum gebeten hatte, es übernehmen zu dürfen, lebte ich schon in Berlin und meine Mutter behauptete, sie selbst wolle hin und wieder ein bisschen an ihre Kindheit anknüpfen und sich an ihren alten Etüden versuchen. Ich glaubte ihr nicht, schwor mir aber, sie nie wieder
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