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Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Titel: Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
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Futternäpfe.
    »Sie hatte ihm Futter und Wasser hingestellt.«
    Er sah aus, als ob er mir widersprechen wollte, ließ es dann aber bleiben.
    Ich wandte mich ab, konnte den Anblick der beiden Plastikschüsseln auf dem Linoleum auf einmal nicht mehr ertragen. Meine Mutter und meine Großmutter fütterten Katzen, und der Herr Pfarrer, mein Großvater, tötete sie. Meine Mutter nahm eine halbwilde Katze in Pflege und ließ sie dann im Stich. Nach Ivos Tod hatte sie geschworen, nie wieder Auto fahren zu wollen und schon gar nicht nach Mecklenburg zu reisen, aber das war eine Lüge gewesen, und vielleicht nicht die einzige. Sagten all diese Fakten überhaupt irgendetwas über ihren Tod und über unsere Familie aus? Wahrscheinlich nicht, wahrscheinlich waren das nur willkürliche Erinnerungssplitter, die mein Hirn in einen Zusammenhang zu bringen versuchte, weil ich das Nichtverstehen ganz einfach nicht aushielt. Vielleicht war die Gutenachtgeschichte von meinem katzenmordenden Großvater ja auch eine Legende – genauso wie all die anderen Nachtflüstereien aus dem Leben der Retzlaffs, inklusive der angeblich so glücklichen, völlig problemlosen Übersiedlung meiner Mutter in den Westen.
    »Hat Ihre Mutter sich umgebracht, Frau Hinrichs, können Sie mir das sagen?«
    »Ich weiß es nicht. Nein. Es gibt keinen Abschiedsbrief, wenn Sie das meinen.«
    Unsere kleinen Geheimnisse, Rixa.
Stumm sah ich zu, wie der Polizist durch die Wohnung ging. Stumm ließ ich geschehen, dass er schließlich im Bad die Zahnbürste meiner Mutter in eine Papiertüte steckte.
    »Besaß sie noch eine zweite Zahnbürste in einem Reisenecessaire? Hatte sie Gepäck dabei?«
    Ich schüttelte den Kopf. Ich wusste es nicht. Bis zu diesem Moment war mir nicht einmal aufgefallen, dass auf der Ablage unter dem Badezimmerspiegel nicht nur die Zahnputzutensilien meiner Mutter, sondern auch ihre Haarbürste und ein Tiegel mit Tagescreme lagen.
    Ich weiß nicht, ob der Polizist mir schließlich glaubte, dass ich ihm nicht helfen konnte und keinen Abschiedsbrief vor ihm versteckte. Niemand mache mich dafür verantwortlich, falls meine Mutter den Unfall mit Absicht herbeigeführt habe, versicherte er mir mehrfach. Natürlich sei es theoretisch möglich, dass die Nachfahren des anderen Ehepaars ein Zivilklageverfahren auf Schadenersatz gegen meinen noch lebenden Bruder Alexander und mich anstrengen würden, aber so etwas geschehe erfahrungsgemäß äußerst selten, denn letztendlich sei der Sachschaden ja über die Versicherung abgedeckt, und kein Gerichtsverfahren der Welt mache Tote wieder lebendig und somit haftbar.
    Ich ging ins Wohnzimmer, nachdem er sich endlich verabschiedet hatte, setzte mich in den Ohrensessel, der in einem anderen Leben einmal das Lieblingsmöbel meines Vaters gewesen war, und sah zu, wie sich die Dämmerung in das Schneegestöber senkte. Ich hätte meine Mutter vielleicht retten können, nein, wahrscheinlich sogar. Hätte und hatte nicht – es tat weh, mir das einzugestehen, es war kaum zu ertragen. Aber ich konnte trotzdem nicht weinen, denn der Schmerz über dieses Versagen begleitete mich schon seit Jahren, ein Fremdkörper in meinem Fleisch, eingekapselt und überwuchert und dennoch vorhanden, wie die nie entfernte Kugel im Leib eines Kriegsveteranen.
    Es war sehr still in der Wohnung, auch von der Straße drang kein Laut hinauf. Die Stille, nach der ich mich früher an diesem Tag gesehnt hatte. Die Stille, die es auf der Marina nie gegeben hatte. Immer dröhnten dort die Maschinen, die das Schiff vorwärtstrieben, immer zischte die Klimaanlage, und beide Grundtöne verwoben sich mit den Stimmen und Schritten von Passagieren und Crew zu einer steten Kakofonie, deren Teil ich war.
    Wenn mein Vater sich zur Mittagsruhe zurückzog oder an seiner Predigt saß, mussten wir Kinder mucksmäuschenstill sein. Wir zogen die Schuhe aus und schlichen auf Zehenspitzen durchs Pfarrhaus, und wehe, wenn wir uns vergaßen oder auch nur die Dielen zu laut knarrten. Dann konnte er furchtbar böse werden. Dann setzte es schon mal eine Tracht Prügel.
    Mein Großvater, der Tyrann. Der Patriarch mit dem Rohrstock. War es so einfach, war das die Erklärung für das Unglück unserer Familie, ja sogar für den Tod meiner Mutter? Der Großvater, den ich kennengelernt hatte, war nicht böse. Er war eine Majestät, hoch gewachsen und ein wenig steif, immer in Schlips und Jackett – dunkel im Winter, hell im Sommer –, selbst wenn er mit uns in den Wald

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