Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
bei den Eltern in Plau gehen die Brennholzvorräte zur Neige, auch die Kornspeicher sind leer, und niemand kann mehr etwas zukaufen, denn die Inflation verschlingt im Rekordtempo alle Vermögen.
»Schneekönige sind das!« Elises Smaragdaugen leuchten. »Wie schade, dass wir nicht ein bisschen Brot für sie haben. Da schau, jetzt haben sie uns entdeckt und werfen sich in Pose, ach, das müsste man malen!«
Malen, ja. Wenn er Elise zur Frau nehmen würde, hätte sie in Mecklenburg für dieses Hobby sicher mehr Zeit als im lebhaften Leipzig mit all seinen kulturellen Verlockungen. Schön muss das sein, wenn er abends über seinen Büchern sitzt und die Predigt vorbereitet und seine junge, bildhübsche Frau neben ihm handarbeitet oder Zeichnungen fertigt. Auch ihre Fähigkeiten am Klavier könnte sie dann noch verfeinern, noch holpert das etwas, und zumindest am Anfang als Vikar wird er wohl in kleinen Gemeinden eingesetzt werden, und dann muss seine Frau im Gottesdienst den Organisten ersetzen. Meine Tochter ist gutwillig, doch sie braucht eine feste Hand, hat Elises Vater ihm vorhin erklärt, fast klang das wie eine Warnung. Es gibt wohl eine tragische Geschichte in der Familie, eine Tante Elises, die man in die Anstalt geben musste, oder war es ein Onkel? Ganz genau hat ihm das niemand verraten, und man darf den Unkenrufen der Alten nicht zu viel Gewicht geben. Sie sind verzagt, denn sie haben zu viel verloren, sie klammern sich an die Jungen, aber die hat der Krieg schneller erwachsen gemacht, als es der Frieden je vermocht hätte, nun ist es an ihnen, die Geschicke zu lenken.
Er schließt seine Hand um den Kaiser-Wilhelm-Apfel, den er aus dem Vorratskeller der Eltern mitgebracht hat. Er hat ein Recht auf ein Glück, oder nicht? Ein Recht, eine Pflicht, eine Aufgabe, die er zu erfüllen hat auf dieser Welt. Richards Aufgabe, die er übernehmen wird – das hat er Gott geschworen, als er nach jener Julischlacht, in der so viele ihre Leben ließen, wie durch ein Wunder nahezu unversehrt im Lazarett erwacht ist.
Richard, ach Richard, der beste aller Brüder. Warum ist gerade er im Krieg geblieben? Richard hätte ihm besser raten können als die Eltern, ihn plagten keine Zweifel, er blickte nach vorn und verlor seinen Lebensplan nie aus den Augen. Im Berliner Dom wollte er nach dem Krieg eines Tages predigen. Nicht sofort natürlich, aber auch nicht erst als alter Mann. Für Gott und den Kaiser und Deutschland. Und er hätte das geschafft, selbst die schöne Sophie, die wie ein Augapfel gehütete, einzige Tochter von Oberkirchenrat Humpe, war Richards Charme schließlich erlegen und mit ihm an die Warnow geschlichen. Großes hätten die beiden gemeinsam bewirken können, doch das Schicksal hatte seine eigenen Pläne, kurz nachdem Richard gefallen war, starb auch Sophie an der Grippe. War das tatsächlich der Wille Gottes – oder Teufelswerk?
»Woran denkst du, mein Theo?« Elise blickt zu ihm auf.
Statt ihr zu antworten, lässt er den Apfel in ihren Fellmuff gleiten. Wie ihre Fingerspitzen glühen und wie sie strahlt, als sie seine Gabe ertastet. Wie rosig sie aussieht, wie lebendig.
Er zieht sie wieder an sich, hebt mit dem Zeigefinger ganz sachte ihr Kinn, findet ihren Mund. Der erste Kuss! Er hat schon öfter daran gedacht und sich gesorgt, ob sie das wohl erschreckt, aber nach einem kaum wahrnehmbaren Moment des Erstarrens fühlt er ihre Zunge, sehr süß und sehr warm.
»Musst du denn wirklich in Rostock zu Ende studieren?«, flüstert sie, als sie sich nach einer schier endlosen Zeit voneinander lösen.
»Du weißt doch, die Kosten. Und für meine Eltern ist das auch besser so, denn seitdem Richard gefallen ist …«
Jetzt hat er die schöne Stimmung verdorben, das liest er in Elises Augen.
»Verzeih mir, ich wollte nicht … Es war nur so schön, seit du hier bist«, sagt sie leise.
»Wir werden uns schreiben, wir sehen uns wieder.« Er nimmt ihre Hände, presst sie an seine Brust. »Wir bleiben uns treu, das musst du mir versprechen.«
Sie zittert jetzt, doch sie hält sich sehr aufrecht, und sie macht keine Szene. Und vielleicht ist es das, was den Ausschlag gibt, vielleicht liegt es auch an der Art, wie ihr Blick wieder die Schwäne sucht und wie diese die Schwingen spreizen und ihn einen Augenblick lang an den Tanz der Kraniche erinnern, deren Flug niemand aufhalten kann. Er weiß nicht, was es ist, aber er weiß, dass ihn plötzlich eine unerklärliche Angst erfüllt, Elise zu verlieren, und
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