Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
dass er das nicht zulassen darf, weil er sie dringend braucht, ja, dass dieses junge, unschuldige Mädchen ihn retten wird.
»Heirate mich.« Er sinkt vor ihr auf die Knie, hält ihre Hände noch immer fest in den seinen. »Heirate mich, Elise. Bitte, sag Ja.«
6. Rixa
Manchmal, wenn selbst Alex genug von seinen naturwissenschaftlichen Erkundungen hatte, spielten wir das Tauchspiel. Aber nur, wenn von den Erwachsenen niemand in der Nähe war, denn dieses Ritual war geheim, niemand durfte uns zusehen. Wenn ich die Augen schließe und mich konzentriere, kann ich immer noch fühlen, wie sich die größeren, schwieligen Hände der Jungs um meine Finger legen und wie das Wasser meine Beine hinaufschwappt – ein eisiger Schock auf der sonnenwarmen Haut. Wir lassen uns nicht los, auf gar keinen Fall – so lautet die wichtigste, unumstößliche Regel. Wir halten uns an den Händen und laufen ins Wasser. Wir paddeln ins Tiefe und bilden einen Kreis. Wir holen Luft und sinken hinab mit weit offenen Augen. Wir verschmelzen zu einer Einheit, sobald wir unter Wasser sind. Drei kindliche Leiber, die einander in einem stummen Reigen umkreisen. Haare wie Seetang, Grimassen und Luftblasen. Bleiche Gespenstergesichter im algigen Grün. Erst wenn es gar nicht mehr geht, schießen wir wieder hoch an die Wasseroberfläche, japsen und lachen, immer noch, ohne die Hände voneinander zu lösen. Und dann tauchen wir wieder hinab. Und noch mal und noch mal. Ich weiß nicht, warum, aber das ist für mich die Essenz unserer Kindheit, mein Bild vom Glück: Wir tauchen mit offenen Augen. Wir halten uns fest. Wir wissen noch nicht, dass das aufhören wird.
Ich lehnte mich an die Spüle und versuchte, diese Bilder zu verdrängen. Ich hatte sie nicht haben wollen, hatte sie all die Jahre seit Ivos Tod in Schach gehalten. Aber nun kamen sie zurück, mit größerer Wucht als jemals zuvor. Das Foto war schuld. Dieses Foto, das sich nun in der Hand eines Polizeibeamten befand. Er wolle sich einen kurzen Eindruck von den Lebensumständen meiner Mutter verschaffen, hatte er erklärt, als ich auf sein Sturmklingeln schließlich geöffnet hatte. Nur zur Sicherheit würde er gern auch noch eine DNA-Probe meiner Mutter mitnehmen. Das sei das übliche Verfahren, wichtig für seinen Abschlussbericht. Heikel sei das natürlich, sehr schmerzhaft für mich, das sei ihm bewusst, ließe sich aber nicht ändern.
Ich nahm ihm das Kinderfoto aus der Hand und stellte es an seinen Platz auf dem Kühlschrank.
»Die Enkel?« Er lächelte ein Lächeln, das ich ihm nicht abnahm, bestimmt hatte er sich doch über unsere Familienverhältnisse informiert.
»Nein, das sind wir. Als Kinder.«
»Sie haben noch einen weiteren Bruder?«
»Ivo ist tot. Schon lange.«
»Das tut mir leid. Wie ist das denn passiert?«
»Ein Unfall.«
Ich verschränkte die Arme, sah ihm in die Augen. Er nickte, als habe er mit dieser Antwort gerechnet, schickte seinen Blick über mein Gesicht, meine Haare und die hautengen Lederhosen, weiter zum Fenster, den Futternäpfen und wieder zum Kühlschrank.
»Wollen Sie einen Kaffee?«
»Welcher der Jungen ist denn Ivo?«
»Der jüngere neben mir.«
»Er sieht Ihnen sehr ähnlich.«
»Als wir klein waren, hat man uns oft für Zwillinge gehalten.«
Ich nahm die Milchtüte aus dem Kühlschrank, was ein Fehler war, denn nun hatte mein ungebetener Gast den Wodka entdeckt.
Trank ihre Mutter Alkohol? Nahm sie Drogen oder bewusstseinsverändernde Medikamente?
Ich goss Milch in meine Kaffeetasse und trank, ohne hinzusehen. Ein weiterer Fehler – denn die Milch war sauer und flockte und der heiße Kaffee verbrannte mir die Zunge.
»Der Tod Ihres Bruders muss sehr hart für Sie gewesen sein.«
»Wir waren schon erwachsen.«
»Das ist keine Antwort auf meine Frage.«
»Es war ja auch keine Frage.«
»Nein, wohl nicht.« Er nickte wie ein gütiger Onkel. Ein freundlicher Typ, Marke Freund und Helfer. Mit etwas zu viel Bauch und zu wenig Haar, um als Actionheld durchzugehen.
»Litt Ihre Mutter an Depressionen, Frau Hinrichs?«
»Sie ist klargekommen. Sie war nicht gerade himmelschreiend glücklich, aber wer ist das schon?«
»Ihr Kühlschrank ist ziemlich leer.«
»Sie war immer sehr sparsam. Ein Kind der Nachkriegsgeneration – Sie wissen schon, sie wollte nicht, dass Lebensmittel verderben, und sie war ja für ein langes Wochenende weggefahren.«
»Wohin?«
»Das hat sie mir nicht gesagt.«
»Und ihr Haustier?« Er deutete auf die
Weitere Kostenlose Bücher