Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
golden, reich, ein perfekter Frühsommertag. Und schon zum Frühstück hat ihr die Mutter Theodors Gratulationsschreiben überreicht, ein feines Büttenkuvert, adressiert an das
Sehr verehrte, gnädige Fräulein Elise Bundschuh
in der Hardenbergstraße in Leipzig.
Geliebte,
schreibt er in seiner gestochenen schwarzblauen Tintenschrift.
Nun wird das, was wir uns erträumen, endlich wahr. Ich kann es kaum noch erwarten! Wird Dir meine Heimat auch gefallen, wirst Du sie lieben und Dich recht bald hier eingewöhnen? Welch eine Frage – natürlich wirst du das, denn schöner als hier kann es nirgendwo sein. Gerade im Mai, wenn alles so hoffnungsvoll aufblüht und der Himmel so hoch ist.
Theodor Retzlaff, ihr Verlobter, ihr Leben! Über ein Jahr haben sie sich nicht mehr gesehen, und auch ihre Briefe sind rar geworden, weil das Porto mit jedem Tag teurer wird, fast unbezahlbar. Ganz irr ist sie in den letzten Monaten manchmal über dieses Schweigen geworden, ganz ängstlich, und all die Zeichnungen, die sie von Theodor anfertigte, wollten und wollten ihr einfach nicht gelingen. Als würde nicht nur ihre Erinnerung an ihren Geliebten, sondern auch er selbst allmählich verblassen.
Aber jetzt wird alles gut, jetzt hat alles Warten und Bangen ein Ende. Morgen schon wird sie nach Mecklenburg reisen. Ganz allein mit dem Zug, über Berlin und Hamburg bis nach Rostock – und dort wird Theodor sie erwarten. Gemeinsam mit seinen Eltern wird er sie in das Pfarrhaus in Plau bringen, in dem er aufwuchs und von dem er mit so viel Liebe spricht. Dort wird sie den Sommer verbringen, unter den Fittichen seiner Mutter, während Theodor an der Universität in Rostock seine letzten Examina ablegt. Und dann werden sie heiraten und gemeinsam fortziehen, in ihr eigenes Pfarrhaus und ein selbstbestimmtes Leben. Nichts und niemand kann sie dann mehr trennen.
»Komm, lass uns weitergehen, Elise«, Hermann berührt ihren Arm und reißt sie aus ihren Träumen.
Elise nickt und wirft einen letzten Blick auf das Wald-Café, zu dem sie ihr Spaziergang entlang der Pleiße geführt hat. Als kleines Mädchen hat sie diese am Waldrand gelegene weiße Villa mit den Erkertürmen insgeheim für ein Märchenschloss gehalten. Unzählige Male ist sie mit den Eltern nach dem Sonntagsspaziergang durch den Connewitzer Forst hier eingekehrt und hat sich am Kamin aufgewärmt. Und wie herrlich war es im Sommer, wenn sie in der Gartenwirtschaft im Hof Platz nehmen konnten. Der Vater trank dann ein kleines Bier und schmauchte eine Zigarre, und seinen beiden jungen Damen, wie er die Mutter und sie bei solchen Anlässen zu Elises kindlicher Freude titulierte, spendierte er je ein Glas kühle Zitronenlimonade.
Elise strafft die Schultern. Hat sie tatsächlich gehofft, Hermann und sie würden hier heute noch einmal pausieren? Kaum jemand kann sich das noch leisten, das beweisen die vielen verwaisten Tische und Stühle. Selbstsüchtig ist sie, an Zitronenlimonade auch nur zu denken, wenn redliche Familienväter sich vor Verzweiflung das Leben nehmen, weil all die neu gedruckten dünnen Geldscheine mit den vielen Nullen über Nacht doch wieder an Wert verlieren. Ein Laib Brot kostet inzwischen über tausend Mark, eine Straßenbahnfahrt ist noch teurer. Ein Wunder ist es, ein wirkliches Wunder, dass es den Eltern gelungen ist, ihr ein Billett für die Zugfahrt nach Rostock zu kaufen. Denn auch der Vater hat sein Vermögen an die unselige Inflation verloren, und vor lauter Gram ist er krank geworden, mag nicht mehr aufstehen, mag nichts mehr essen.
»Sei nicht so traurig, heute ist doch dein Ehrentag«, mahnt Hermann leise.
»Du hast recht.« Ihre Stimme klingt heiser, etwas schnürt ihr auf einmal die Kehle zu. Schnell schenkt sie Hermann ein Lächeln und zieht ihn mit sich fort, weg von dem Café und ihren schwarzen Gedanken, tiefer hinein in den maigrünen Wald.
Wie wird es sein, Theodor endlich wiederzusehen? Wird er sie noch schön finden, wird er sie küssen? Wenn sie mit Hermann zusammen ist, ist alles vertraut, mit ihm und den Eltern ist sie die Elise, die sie immer war. Mit Theodor ist alles anders. Er überwältigt sie. In seiner Anwesenheit werden alle Farben der Welt intensiver und zugleich reißt etwas tief in ihrem Inneren, sehnt sich und sehnt sich, lässt sich gar nicht beruhigen.
Nun wird das, was wir uns erträumen, endlich wahr
. Elise lacht auf. So fühlt sie sich also an, diese Freiheit, nach der sie sich so lange verzehrt hat. Das erwachsene
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