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Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Titel: Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
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zu fragen. Ich investierte Geld in das Sperrmüllklavier, das Ivo mir organisiert hatte, und übte oft nächtelang in der Hochschule. Ich sparte eisern, um mir den Konzertflügel meiner Träume zu kaufen, aber dazu war es dann nicht mehr gekommen.
    Meine Mutter hatte gelogen, sie hatte mit Sicherheit niemals auf diesem Klavier gespielt. Denn auch wenn sie meine Musik nicht unterstützte, besaß sie ein gutes Gehör. Warum hatte sie mir das Klavier nicht gegeben, obwohl es doch ursprünglich extra für mich angeschafft worden war? Als wir klein waren, wollte sie, dass wir ein Instrument spielten. Alex lernte Geige, Ivo Trompete und ich Klavier. Aber ich war die Einzige, die Feuer fing – und sobald meine Mutter das bemerkte, fing sie an, meine Träume zu bekämpfen.
Musik ist doch
kein Beruf, Rixa. Davon kann man nicht leben.
Gift waren solche Sätze für mich. Verwünschungen, gegen die ich vehement aufbegehrte. Aber vielleicht war mein Widerstand zwecklos gewesen, vielleicht hatten sie sich doch in mir eingenistet und wucherten in mir wie ein Krebsgeschwür, ohne dass mir das bewusst war. Vielleicht war ich letztlich daran gescheitert, nicht an meiner Trauer um Ivo?
Barpianistin, was für ein Jammer!
Ich hatte versucht, auch dieses Urteil meiner Mutter zu ignorieren, hatte seine Kraft geleugnet, seine Wahrheit – und mich dabei auch um meine eigenen Träume betrogen. Ich hatte Konzerte spielen wollen, klassisch zunächst und irgendwann auch mit eigenen Kompositionen, doch stattdessen war ich eine Hintergrundmusikerin geworden, eine Atmosphärenerzeugerin, eine menschliche Jukebox im Abendkleid. Ich war eine Betrügerin, genau wie die Stare.
    Ich begann zu spielen, Schuberts
Gute Nacht,
das mir noch immer im Kopf herumspukte.
Muss selbst den Weg mir weisen, in dieser Dunkelheit.
Herrgottnochmal, wie melodramatisch. Kein Wunder, dass mein Weihnachtskonzert in Poserin damals völlig missglückt war. Ich wechselte zu den
Nebensonnen
, hämmerte nach den ersten Akkorden übergangslos ein paar Takte von Beethovens
Wut über den verlorenen Groschen
hinterher, dann Melissa Etheridges
Like the Way I Do
, bis mir plötzlich die Tränen kamen. Verpasste Möglichkeiten, begrabene Träume. Ich würde dieses Klavier nicht stimmen lassen und auch nicht behalten, ich würde es irgendeiner Musikschule oder noch besser einer armen Studentin vermachen.
    Ich ließ die Hände sinken. Das Lieblingslied meiner Großmutter war eine Carl-Löwe-Ballade gewesen.
Der Nöck
hieß das, und wenn wir sie lange genug bestürmten, wies sie uns an, die Hände zu waschen und die Schuhe auszuziehen, und dann durften wir in ihr Heiligtum: die Wohnstube des Pfarrhauses mit den Biedermeier-Sitzmöbeln aus Leipzig. Erwartungsvoll aufgereiht nahmen wir Platz und sahen zu, wie sie die Schellackplatte aus der Truhe hervorsuchte und nach meinem Großvater rief, der die schwarze Scheibe sehr umständlich polierte und auf einen monströsen Plattenspieler legte, und nach einigem Hin und Her und der Betätigung diverser Knöpfe und Schalter drang durch das Rauschen und Knistern der Lautsprecher der Gesang eines Bassbaritons mit einer übertrieben theatralischen Phrasierung, die längst aus der Mode gekommen war. Ich glaube, nein, ich bin sicher, mein Großvater hörte das auch, und es störte ihn. Doch er sagte das nie, und meine Großmutter lächelte jedes Mal selig, ganz anders als bei meinen Live-Darbietungen oder wenn Großvater seine Tschaikowskykonzerte auflegte. Sie sah sehr jung aus, sobald die Ballade vom Nöck erklang. Und in ihrem Lächeln schien sich ein Geheimnis zu verbergen, das noch schwerer zu ergründen war als dieses Wispern im Schilf, von dem sie schwor, es sei der Atem des Wassermanns, und wenn wir nur lange genug still säßen und lauschten und ein bisschen Glück hätten, könnten wir ihn sogar singen hören.
    Mein Handy begann zu fiedeln, riss mich aus meinen Gedanken. Ihr sei noch etwas eingefallen, sagte Vanessa de Jong von der Autovermietung. Ein Ort nämlich, den meine Mutter einmal erwähnt hätte.
    »Aha?« Ich dachte an Zietenhagen und Poserin und an all die anderen Dörfer und Städtchen, in denen wir im Laufe der Jahre Verwandte besucht hatten oder von denen in den Geschichten meiner Mutter die Rede gewesen war. Doch der Name, den Vanessa de Jong nannte, war mir völlig fremd.
    »Sie ist nach Sellin gefahren«, sagte sie.

Elise, 1923
    Großjährig ist sie nun. Erwachsen! Ihr Herz schlägt bis hinauf in die Kehle. Dieser Tag ist

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