Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
das Äußerste, das an einem deutschen Januartag an Helligkeit möglich war.
»Rixa, hallo? Bist du noch dran?«
»Ja.«
Der Moskwitsch röhrte auf, weil Wolle ihn auf die Überholspur zog. Tempo 95, mehr schaffte diese antik anmutende Russenkarosse offenbar nicht, von hinten schoss ein lichthupender BMW auf uns zu. Ich schloss die Augen, wünschte mich in einen Zustand, in dem ich nichts hören, nichts sehen, nichts entscheiden müsste. Schlafen, vergessen – wenigstens für eine Nacht. Aber das funktionierte nicht, das hatte mir dieser Albtraum aus meiner Kindheit gerade erst bewiesen. Und so war ich froh darüber gewesen, dass Wolles Anruf mich um kurz nach sieben Uhr zurück in die Gegenwart riss. Wenn ich schon eins seiner Autos zu nutzen gedenke, um nach Sellin zu fahren, dann nur mit ihm am Steuer, hatte er mir verkündet. Und nein, das sei keine übertriebene Fürsorge, er täte das für Ivo, und Piet komme auch mit.
»… ich habe trotzdem zugesagt, Rixa«, erklärte Lorenz. »So ein Angebot kommt ja nicht alle Tage, und wenn ich erst mal dabei bin, kann ich die ja vielleicht noch überreden, dir doch eine Chance zu geben.«
»Ja, klar.«
»Besser einer von uns als keiner, oder siehst du das anders?«
Ich öffnete die Augen wieder. Der BMW hing uns quasi auf der Stoßstange, sein Fahrer hatte inzwischen jedoch immerhin eingesehen, dass die Betätigung seiner Lichthupe nichts beschleunigte. Der Mossi – wie Wolle unser Gefährt liebevoll nannte – kämpfte und schnaufte und schob sich nun tatsächlich Zentimeter um Zentimeter an dem Tieflader auf der rechten Spur vorbei. Wir würden dieses Schneckenwettrennen gewinnen, es war höchstens noch eine Frage von zehn oder fünfzehn Minuten. Ich zog den Armeeschlafsack, den Wolle mir als Ersatz für eine zuverlässig funktionierende Heizung auf die Rückbank geworfen hatte, über meine Beine. Es hatte etwas Kindliches, quer und unangeschnallt auf der Rückbank zu sitzen. Es war ein bisschen wie früher, im Urlaub, obwohl natürlich weder Alex noch Ivo oder ich die Rückbank oft für uns allein gehabt hatten.
Ich fragte mich, was ich an Lorenz’ Stelle getan hätte. Zugesagt? Abgesagt? Hatte er unser Demoband überhaupt vorgeführt oder war es denen nur um den Liveeindruck gegangen, zu dem ich nichts hatte beitragen können? Auf dem Tape war unsere gemeinsame Komposition, die wir gemeinsam eingespielt hatten. Saxofon und Klavier. Für Lorenz war das Routine, für mich war es neu. Wir hatten den Sommer zusammen im Jazzensemble der MS Europa verbringen wollen – und das war unsere Bewerbung. Er kenne den Musikdirektor, hatte Lorenz gesagt. Es wäre sicherlich kein Problem, den für mich zu gewinnen, auch wenn ich nicht originär im Jazz beheimatet wäre.
»Ich komme nach Deutschland, um den Vertrag zu unterzeichnen«, sagt er jetzt. »Schon in zwei Wochen!«
»Dann bin ich wieder auf der Marina.«
»Bist du sicher?«
»Das ist der Plan.«
»Schade, ich dachte, wir könnten dann vielleicht –«
»Ich hab jetzt keine Zeit mehr, Lorenz.«
»Sorry, natürlich.«
»Mach’s gut.«
»Nimm’s nicht persönlich. Und ruf mich wieder an!«
Ich drückte das Gespräch weg, schob mein Handy in die Jackentasche.
»Bad News?« Piet wandte sich auf dem Beifahrersitz zu mir um.
Ich hob die Schultern. Es gab noch andere Optionen. Eine österreichische Hotelkette. Eine weitere Tour mit der Hurtigruten. Nicht auf der Hauptbühne natürlich, nicht in einer Band.
Barpianistin, was für ein Jammer.
»Das war wohl dein Freund.« Auch Wolles Augen suchten meine im Rückspiegel.
»Und wenn?«
»Dann habt ihr dicke Luft.«
»Wenn du das sagst.«
»Stimmt’s etwa nicht?«
»Was wird das hier: noch so ein Kreuzverhör?«
»Intimacy Two. Rixa Reloaded.«
»Seit wann kannst du Englisch?«
»Man muss den Feind verstehen, will man ihn besiegen.« Er zwinkerte mir zu und ich war plötzlich froh, dass die beiden mich begleiteten.
Ich sah aus dem Fenster, versuchte das Gefühl von Mahé wieder zu aktivieren. Zuversicht. Wagemut. Das salzige Meer mit den bunten Fischen, die mich an Alex erinnert hatten. Der puderfeine Sand unter meinen Füßen und die Freude, als ich zu meinem Handy rannte, weil ich dachte, es wäre Lorenz. Wie lange war das her – zwei Tage, drei? Ein Moment nur, eine Sekunde, und alles kann sich auf immer verändern.
Piet reichte mir eine verbeulte Thermoskanne nach hinten. Ich goss mir ein, merkte wieder, wie müde ich war. Der Kaffee war schwarz
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