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Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Titel: Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
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und sehr stark, und er schmeckte bitter. Ich müsste enttäuscht sein, sagte ich mir vor. Verletzt. Gekränkt. Wütend auf Lorenz und auf den Veranstalter, der mir keine Chance gab, doch ich konnte nichts fühlen.
    Neuruppin lag nun hinter uns, die Landschaft zerdehnte sich, der Himmel sank tiefer. Weiß- und Grauschattierungen bis zu einem nur ahnbaren Horizont, auf einem Feld hob ein Rudel Rehe die Köpfe.
    »Du musst ganz still sein, Rixa, und
darfst dich nicht bewegen, dann haben die Rehe keine Angst
und kommen noch näher.«
    »Da ist ein ganz kleines, das sieht aus, als ob es friert.«
    »Aber nein, Kind, das friert nicht, das hat doch einen Pelz. Der wächst im Winter viel dichter als im Sommer. Und er ist graubraun, damit die Rehe getarnt sind.«
    »Aber im Schnee sieht man sie trotzdem.«
    »Nur wenn sie sich aus dem Wald herauswagen.«
    »Was essen die Rehe im Schnee, Opa?«
    »Sie scharren nach Gräsern und allerlei Laub oder Eicheln und Bucheckern. Und wenn es zu lange kalt ist, füttert der Jäger sie mit Heu und Kastanien.«
    »Und er schießt sie nicht tot?«
    »Nicht alle, nein.«
    Eine künstlich aufgeschüttete Böschung schob sich vor die Rehe, eine Nothaltebucht voller grauschwarzer Schneebrocken. Ich reichte Piet den leeren Becher und die Thermoskanne wieder nach vorn und tastete nach der Plastiktüte, die man mir vor zwei Stunden auf dem Polizeipräsidium übergeben hatte. Ein Bund rußige Schlüssel – das Einzige, was von der Handtasche meiner Mutter geblieben war. Einer der Schlüssel passte zu der Wohnung meiner Mutter. Die anderen konnte ich nicht zuordnen, der kleinste gehörte offenbar zu einem Safe oder Bankfach. Wofür hatte meine Mutter das angemietet und bei welcher Bank? Soweit ich wusste, besaß sie weder wertvollen Schmuck noch Vermögen. Der Unterhalt, den mein Vater an sie zahlte, reichte so gerade für Miete und Nahrung. Die Plastikberingung des Safeschlüssels war geschmolzen, eine Nummerierung oder ein Hinweis darauf, zu welchem Bankhaus er gehörte, nicht mehr zu erkennen. Auch die anderen Schlüssel waren durch die Hitze, die in dem brennenden Wagen geherrscht hatte, vermutlich porös geworden und also nur noch mit Vorsicht zu gebrauchen, hatten die Kriminalbeamten mir erklärt.
    Sie war an einem Vormittag nach Mecklenburg gefahren, genau wie wir. Sie hatte ihr Ziel wohlbehalten erreicht und dort erledigt, was auch immer sie vorhatte. Erst als es Nacht geworden war, machte sie sich erneut auf den Weg und starb – eine Geisterfahrerin zur Geisterstunde. Warum, verdammt noch mal, nach all diesen Jahren?
    Der Albtraum der Nacht sprang mich wieder an. Dieses Schwarz, das sich auf meine Mutter herabsenkt und sie einfach auslöscht. Dieses hilflose Entsetzen, das damit verbunden war.
Aber ich bin doch hier, Ricki, sieh doch nur, ich bin ganz lebendig!
Ein ums andere Mal versicherte meine Mutter mir das, wenn mein Weinen sie aus dem Schlaf gerissen hatte. Und ich klammerte mich an sie und versuchte ihr zu glauben. Doch der Traum kam mir trotzdem nie wie ein Traum vor, sondern wie etwas, das tatsächlich geschehen war. Die Erinnerung eines Säuglings – völlig unmöglich. Irgendwann in der Pubertät hörte ich schließlich auf, diesen Traum zu träumen. Selbst die Erinnerung an ihn begann zu verblassen. Aber tief in mir verborgen hatte ich ihn dennoch konserviert, jedes einzelne Bild, wie einen bösen Schatz.
    Vielleicht gab es ja eine Erklärung für diesen Traum – in diesem Dorf, Sellin, über das keiner meiner Onkel und Tanten mit mir sprechen wollte, vielleicht fand ich dort sogar eine passende Tür zu einem der Schlüssel. Noch etwa hundert Kilometer, etwa zwei Stunden Fahrt maximal, falls nicht etwas dazwischenkam. Die Heizung des Moskwitsch sprang auf einmal an und spie einen Schwall Warmluft ins Wageninnere, wie um mich zu beruhigen. »Rostquietsch« hätten die DDR-Bürger diesen im Moskauer Lenin-Werk gefertigten Wagentyp geschimpft, hatte Wolle erklärt, als wir losgefahren waren. Doch die Volkspolizei schätzte ihn wegen seiner Zuverlässigkeit, und so hatte Wolle sich nach der Wende seinen persönlichen Moskwitsch gesichert. Einen 2137 sogar – ein seltenes, aber sehr praktisches Kombimodell – das er mit einer damals noch erhältlichen Spachtelmasse ein für alle Mal gegen Rost imprägnierte, und wenn es überhaupt ein Auto gab, mit dem er sich bei diesem Wetter in die Niederungen Mecklenburgs wagen würde, dann sei es sein hellblauer Schrecken der

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