Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
Taiga.
Durch die Wärme roch es plötzlich anders im Wagen – nach DDR. Ein Geruchsgemisch aus Plaste und Braunkohle und etwas Undefinierbarem schien aus den Sitzen zu kriechen. Nicht sehr aufdringlich, kaum wahrnehmbar. Alte DDR-Zugwaggons rochen noch so. Verlassene Wohnungen im Berliner Osten. Einmal war mir dieser Geruch auch in einem Hotel an der Ostsee begegnet, obwohl es nach der Wiedervereinigung von Grund auf saniert worden war. Aber nachts kroch dieses spezielle Aroma dennoch unter den neuen Lacken und Farben und Teppichen hervor. Hartnäckig und unverwüstlich. Es ist alles noch da und doch nicht da, dachte ich, man kann es nur nicht mehr greifen. Und für ein paar Sekunden fand ich das tröstlich.
Die Heizung versagte erneut, als Wolle zum nächsten Überholmanöver ansetzte. Der Moskwitsch rutschte und fing sich wieder.
Dorchen, mein Hasenfuß
. Ich versuchte mir vorzustellen, wie meine Mutter hier entlanggefahren war. Ich versuchte mir auszumalen, wie sie überhaupt in den letzten zwölf Jahren gelebt hatte, wer sie war. Vergeblich. Ich schaffte es nicht. Selbst der Schmerz über ihren Tod blieb abstrakt für mich, nicht wirklich fühlbar.
Was war in meiner Mutter vorgegangen, als sie mit fünfzehn in den Westen übersiedelte, fühlte sie sich zumindest damals stark, hoffnungsvoll, glücklich? Ich war im selben Alter, als ich mich für die Musik entschied – allein, ohne ihre Unterstützung. Kindheit. Heimat. Erwachsenwerden. Hatte mein Onkel Richard recht, sehnte sich meine Mutter einfach wieder nach diesem Land, in dem sie aufgewachsen war, fuhr sie deshalb nach Mecklenburg? Wir waren uns einmal sehr nah gewesen, nicht nur in jenen Nächten, in denen sie an mein Bett schlich und mir ihre Geschichten zuflüsterte. Ich hatte sie geliebt und bewundert, mit ihr gelacht, mich zuweilen mit ihr verbündet.
Komm, Rixa, hilf mir mal schnell, du kannst das am
besten. Wir zwei Frauen halten doch zusammen, nicht wahr?
Ich schaltete meinen iPod ein, entschied mich für
Silly
. Die Rolling Stones der DDR. Vom ersten Moment, in dem ich diese Band während eines Mecklenburg-Besuchs entdeckt hatte, nahm mich die Stimme der großartigen Tamara Danz gefangen. Rotzig und verletzlich zugleich. Jeder Ton ein Manifest ihres unbändigen Lebenshungers, den der Krebs letztlich doch besiegt hatte – nach dem Fall der Mauer, als sie dabei war, auch den Westen zu erobern. Doch als ich sie entdeckte, war die Wende noch fern. Über ein Jahr dauerte es, bis mein Cousin Markus mir eine der auch in der DDR nur schwer erhältlichen Silly-Schallplatten besorgt hatte. Dass es je so etwas wie einen MP3-Player geben würde, lag jenseits unserer Vorstellungskraft. In der DDR gab es ja nicht einmal Kassettenrekorder. Aber das störte uns nicht. Bevor ich die Silly-LP mit in den Westen nahm, überspielte ich sie für meine Cousins und Cousinen und deren Freunde auf riesige Tonbänder, genau wie die Westschätze, die ich für sie über die Grenze schmuggelte: Manfred Mann’s Earth Band. Led Zeppelin. ELO. Pink Floyd. Alan Parson’s. Musik war uns heilig damals. Unsere ureigene Sprache. Ein Versprechen, dass alles möglich war. Nächtelang hockten wir vor der Stereoanlage, um ihr zu huldigen.
Ich schloss die Augen und ließ Tamara singen.
Mont Klamott. Die wilde Mathilde. Unter’m Asphalt.
Ich kannte ihre Lieder alle auswendig, jeden Ton, jedes Wort. Doch am großartigsten waren noch immer Tamaras ganz leise Töne, diese Zärtlichkeit in ihrer Stimme, wenn sie
So’ne kleine Frau
sang, ganz ohne Pathos, ohne jeden Kitsch.
Wir fuhren bei Linstow von der Autobahn ab, eine Ausfahrt vor Krakow, wo meine Mutter verunglückt war. Ein paar winzige Schneeflocken trudelten an die Windschutzscheibe. Die Landstraße war schmal und ungeräumt, es dauerte eine Weile, bis die Reifen darauf griffen. Weiß, weiß, nichts als weiß. Ein Haus oder gar eine Ansiedlung mehrerer Häuser, die so etwas wie ein Dorf darstellten, das Linstow heißen könnte, war nirgends zu entdecken. Wolle fuhr fünfzig, Zeitlupentempo. Windkrumme Kiefern glitten an uns vorbei. Eine historisch wirkende Stromleitung auf Masten aus Holz tauchte wie aus dem Nichts auf und begleitete die Fahrbahn.
»Bei Schnee konnten
wir nicht mit den Rädern zum Bahnhof fahren, Rixa. Dann liefen wir zu Fuß, jeden Morgen und Abend – über drei Kilometer. Bis über die Knie sanken wir manchmal ein. Wenn wir dann in der Schule ankamen, waren wir hundemüde.«
»Gab es denn keinen Schulbus
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