Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Titel: Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
Vom Netzwerk:
Mein Vater? Einen Moment lang bin ich deshalb erleichtert. Aber dann ist da auf einmal dieses Schluchzen. Stimmlos. Gesichtslos. Und meine Mutter wird kalt, etwas Schwarzes senkt sich auf sie herab, will sie mir wegnehmen, löst sie einfach auf.
    Mein Schrei weckte mich, genau wie früher. Mein rasendes Herz. Eine Kälte von innen. Aber etwas war dennoch anders, ein Gewicht auf meiner Brust, eine fremde Wärme. Ich riss die Augen auf und blickte direkt in zwei glimmende gelbe Kreise. Othello, der Kater, wie eine Schattensphinx hockte er auf mir, und durch die grünen Gardinen kroch der Morgen. Ich atmete aus, versuchte mich zu beruhigen. Ich musste aufstehen. Duschen. Weitermachen. Nach Sellin fahren. Der Kater begann zu schnurren, es klang wie ein Motor, doch er schnappte nach mir, als ich versuchte, ihn zu streicheln. Irgendwo klingelte etwas – mein Handy. Weit entfernt. Wie in einem anderen Leben.

Elise, 1924
    Ihr falsch gesetzter Schlussakkord dröhnt unerbittlich in ihren Ohren. Die Gemeinde verstummt, das gibt dem Misston, den sie produziert hat, noch mehr Gewicht, steigert ihn ins schier Unerträgliche. Elise krümmt sich zusammen und birgt ihr Gesicht in den Händen. Warum kann sie sich nicht konzentrieren, sie kennt dieses Lied doch in- und auswendig, hat es schon mit den Eltern in Leipzig gesungen? Eine Welle der Übelkeit flutet durch ihren Körper, schlimmer fast als morgens. Nicht das auch noch, nicht hier, oh Gott, bitte nicht! Sie richtet sich wieder auf, panisch bemüht, mit den Füßen nicht an eins der Orgelpedale zu stoßen, presst die Hand vor den Mund. Sie darf sich hier nicht übergeben, auf gar keinen Fall, doch nicht in der Kirche. Sie schluckt hart, zwingt die Säure zurück in die Kehle. Ihr Magen revoltiert, will ihr nicht gehorchen, Schweiß strömt ihr übers Gesicht, obwohl ihr so kalt ist, dass sie zittert.
    »Der Herr segne Euch und behüte Euch …«
    Wie durch Nebel dringt Theodors Stimme zu ihr auf die Empore. Den Schlusssegen singt er nun schon, wird ihr bewusst – den muss sie doch begleiten. Welches Register? Welches Pedal? Und welche Tonart? Sie kann sich nicht erinnern, und das Notenblatt gleitet ihr aus den Fingern, die von der Kälte ganz steif sind, aber Theodor singt einfach weiter, mühelos, ja beinahe überirdisch erfüllt seine Stimme die Kirche, jeder Ton ist vollkommen.
    »Der Herr lasse sein Angesicht leuchten über Euch…«
    Nun ist es zu spät, jetzt läutet der alte Gustav, den Theodor zum Hilfsküster ernannt hat, bereits die Glocken. Elise sitzt reglos, mit brennenden Wangen. Vielleicht hat die Gemeinde die Orgelbegleitung beim Schlusssegen gar nicht vermisst, vielleicht hat auch niemand ihren Schnitzer am Ende des »Nun lobet alle Gott« gehört – niemand außer Theodor natürlich, denn den kann sie nicht täuschen.
    Einatmen, ausatmen, und schlucken, schlucken. Fußscharren und gedämpftes Gemurmel erklingen aus dem Kirchenschiff. Das Schaben grober Holzpantinen auf dem Steinboden, das Geplärr eines Säuglings, den die plötzliche Unruhe aufgeweckt hat. Sie muss aufstehen und nach unten gehen, das ist nun ihre Pflicht. Sie muss Hände schütteln und lächeln, ein gutes Wort hier sprechen, eine Nachfrage dort platzieren. Sie schafft es nicht, kann einfach nicht, sie braucht alle Kraft, dieses Unwohlsein zu unterdrücken.
    »Frau Vikar?«
    Ein Schatten löst sich von der Orgel, ein Gemisch aus Schweinestall und Schweiß wallt ihr in die Nase, dann steht der Bauerntölpel, der den Blasebalg bedient, vor ihr – den hat sie über ihren Sorgen ganz vergessen.
    »Geh schon heim, Friedrich, und vielen Dank.«
    Elise kneift die Lippen zusammen und versucht dennoch zu lächeln. Was geschieht nur mit ihr, warum ist sie so kränklich? Seit drei Wochen geht das nun schon so, nichts schmeckt ihr mehr richtig, kaum etwas kann sie bei sich behalten, und sie muss ständig weinen, dabei ist sie doch glücklich. Die Mutter könnte ihr vielleicht etwas raten, ihre liebe, gute Mutter. Aber die ist weit fort, in Leipzig. Nicht einmal zu Weihnachten haben sie sich gesehen, weil das Geld auch in der neuen Währung nicht zum Reisen reicht. Und außerdem will die Mutter die Wohnung den Untermietern, die sie nach dem Tod des Vaters notgedrungen bei sich aufnehmen musste, nicht allein überlassen.
    »Elise?«
    Die Holzstiege knarrt unter Theodors langen Schritten, dann läuft er auf sie zu, mit wehendem Talar.
    »Es tut mir so leid, mir war wieder unwohl.«
    Sie schafft es nicht,

Weitere Kostenlose Bücher