Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
ihrem Mann in die Augen zu sehen, hört ihn einatmen, seufzen, und auf diese Weise wohl seinen Tadel auszudrücken, und das erinnert sie an Fräulein Berg in der Hauswirtschaftsschule, die ihr anfangs vorwarf, sich nicht genug zu bemühen, und schließlich gar nicht mehr mit ihr sprach.
»Ich habe wirklich geübt, Theodor, bitte glaub mir!«
Er antwortet nicht, sieht auf einmal sehr müde aus, und das ist ja kein Wunder, denn nachts liegt er stundenlang wach und grämt sich über Dinge, von denen er ihr nichts sagen will, und tagsüber läuft er viele Stunden lang von Gehöft zu Gehöft, um auch wirklich alle Gemeindemitglieder für Gott zu gewinnen. Und sie, seine Frau? Sie macht ihm alles noch schwerer, und nun lügt sie sogar. Denn natürlich hat sie ihre guten Vorsätze im Laufe der Woche doch wieder verdrängt. Weil sie lieber gemalt hat, weil die Kirche so grausig kalt ist, weil es schon schwer genug ist, das Pfarrhaus in Ordnung zu halten, und –.
»Du musst jetzt nach Hause gehen, Elise. Um drei Uhr kommt Landrat Petermann nebst Gattin zum Tee.«
Der Besuch, um Himmels willen! Wie konnte sie den nur vergessen? Wieder krampft sich ihr Magen zusammen, aber Theodor scheint das nicht zu bemerken, und sie wagt nicht, ihn nochmals daran zu erinnern, wie es um sie steht, denn in seinem Talar wirkt er so ganz anders als der Mann, an den sie sich nachts anschmiegt, der sie hält und liebkost und ihr von seinen Sehnsüchten flüstert.
In deinem Wesen liegt eine gefährliche Selbstüberhebung,
mahnt der Vater in ihrem Kopf.
Du bist zu egoistisch. Du musst lernen, die Autorität anderer anzuerkennen.
»Back deinen Apfelkuchen, ja?« Theodor fasst ihre Hand und zieht sie zur Treppe. »Der Landrat ist wichtig für uns, und wir wollen doch einen guten Eindruck machen.«
»Und das Mittagessen?«
»Wir essen um eins. Ich muss vorher noch zu Müllers, denn mit deren jüngstem Sohn geht es wohl zu Ende.«
Er begleitet sie zur Tür, küsst ganz leicht ihre Stirn, schiebt sie dann fast gewaltvoll aus der Kirche.
Die Welt draußen ist eisig und starr, versunken in Schnee, selbst die Steinkreuze des Friedhofs drohen unter der weißen Last zu verschwinden. Der Himmel ist kraftlos, aller Farbe beraubt, der Rauch aus den Schornsteinen sieht durchsichtig aus. Wie beseelt war sie früher vom Schnee, Stunden hat sie sich gemüht, die weiße Pracht auf die Leinwand zu bannen, und die Eiszapfen an den Dachrinnen, dieses kalte Glitzern, fand sie romantisch. Elise läuft los. Der Schnee knirscht kaum hörbar unter ihren Schritten. Von den anderen Kirchgängern ist nichts mehr zu sehen. Als sei sie ganz allein auf der Welt, kommt es ihr plötzlich vor, nur eine Krähe krächzt ihr misstönendes Lied in die Stille. Wie ein Hohn klingt das, wie ein dreckiges Lachen.
Nicht umdrehen, nicht stolpern, und den Kopf immer hochhalten und den Rücken sehr gerade. Die frische Luft tut ihr gut, das ist immerhin etwas. Wenn bloß der Kuchen gelingt. Und das Fleisch darf nicht anbrennen. Wie lange kochen noch einmal Kartoffeln?
Gleich wird sie das nachschauen, zu Hause, sie hat sich das doch notiert. Auch das Kuchenrezept steht in ihrem Haushaltsbuch. Sie wird schon alles schaffen und sie darf jetzt nicht weinen, weil sie schon wieder der Mut verlässt, nicht auf der Straße, denn auch wenn die Häuser verlassen wirken, haben sie Ohren und Augen, das weiß sie inzwischen aus leidvoller Erfahrung. Die Fremde – das ist sie hier in Poserin. Aus einer anderen Welt. Mit einer anderen Sprache. Die Frau Vikar aus der Stadt, der man zwar ausgesucht höflich begegnet, von der man aber weiß, dass sie so gar nichts begreift. Selbst ihr eigenes Hausmädchen Greta muss schon über sie lachen.
Elise drosselt ihr Tempo, denkt erneut an die Mutter, sieht sie beinahe vor sich.
Haltung, Elise, darauf kommt es an.
Das hat sie stets gefordert, so lebt sie auch selbst: behält ihre Trauer um den Vater für sich. Jammert nicht über das verlorene Geld.
Haltung. Haltung.
Sogar als die Mutter einmal völlig unverhofft in eine Straßenschlacht geriet, ist sie von diesem persönlichen Leitsatz nicht abgewichen. Seelenruhig und mit hoch erhobenem Haupte schritt sie durch den Kugelregen nach Hause, während alle anderen Passanten in einem Laden oder Hauseingang Deckung suchten. Wann war das gewesen? Vor vier Jahren, im März. Bei den Unruhen, die den Spartakusaufständen folgten. Elise war damals noch in Erfurt bei Fräulein Berg. Ein alberner Backfisch, der seine
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