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Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Titel: Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
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für die Kinder?«
    »Aber doch nicht auf dem Land und zu dieser Zeit! Auch dein Opa ging immer zu Fuß, viele, viele Kilometer. Anfangs wollten die Bauern seiner Gemeinde ihm wohl Pferd und Wagen geben, weil er doch eine Autoritätsperson, der Herr Pfarrer, war. Aber er lehnte das ab, ich glaube, er wollte nicht auch noch für ein Pferd sorgen müssen. Später, im Krieg, fuhr er dann einen Mercedes Benz, ich weiß gar nicht mehr, woher er den eigentlich hatte, aber in jedem Fall haben ihm die Russen den wieder weggenommen.Oder waren das noch die Nazis? Es sei gut für die Seele, zu Fuß zu gehen, behauptete dein Opa immer. Aber manches Mal, wenn er abends von einem Hausbesuch auf einem weit entfernten Gehöft heimkam, war er so erschöpft, dass er auf der Ofenbank einschlief und sich kaum wieder aufwecken ließ.«
    »Und was habt ihr dann gemacht?«
    »Ach, ich weiß nicht. Ich sehe meine Mutter noch, wie sie vor ihm kniet und ihn ausschimpft, weil er nicht besser auf sich achtgibt, und sich mit seinen vereisten Schnürsenkeln abmüht. Sie war immer schrecklich besorgt um ihn, jeden einzelnen Tag ihres Lebens. Dabei war er ein kräftiger, baumlanger Kerl und sie ein zierliches Persönchen. Irgendwie schaffte sie es dann aber doch immer, ihn hochzuziehen und ins Bett zu bugsieren. Dabei wäre ihm am Ofen ja über Nacht nichts geschehen, dort konnte er schließlich nicht erfrieren.«
    Am Krakower See führte die Landstraße auf einen Damm. Eisflächen erstreckten sich zu beiden Seiten, entfernt zogen ein paar vermummte Gestalten auf Schlittschuhen ihre Kreise. Meine Großmutter hatte die Winter gehasst und gefürchtet, doch sie liebte das Eislaufen. In einem unserer Familienalben klebte sogar ein Foto, das sie dabei zeigte: als junge Frau in Leipzig, mit Wollcape und Pudelmütze und weit ausgebreiteten Armen. Hatte sie ihre Schlittschuhe mit nach Mecklenburg gebracht und war im Winter auf Kufen über die gefrorenen Seen geglitten? Durfte sie das als Frau Pfarrer, hatte sie dazu überhaupt je die Muße? Ich wünschte ihr das auf einmal, wünschte, sie hätte mit ihrem Theodor hin und wieder Pirouetten gedreht – oder wenigstens mit ihren Kindern. Warum hatte mein Großvater im Krieg eigentlich plötzlich ein Auto besessen? Ausgerechnet in jener Zeit, als die Nationalsozialisten alles, was irgend kriegstauglich war, konfiszierten – zumal von einem Pastor, der verkündete, Gott sei ihm heiliger als Adolf Hitler.
    Vielleicht war das ja auch gar nicht wahr. Vermutlich war der Benz nur eine Legende, eine von vielen, die meine Mutter für mich wiederholte, weil auch sie es nicht besser wusste oder tatsächlich daran glaubte.
    Wir durchquerten Krakow und passierten kurz darauf seine Nachwende-Stadtrandgeschwüre: Tankstellen und Autohäuser mit glitzernden Wimpeln, Discount-Supermärkte inmitten gigantischer Parkplätze. Mein Großvater hätte das gehasst – eine Verschandelung der Landschaft.
    »Er hat sich seine Pfarrstellen immer nach der Natur ausgesucht. Er brauchte Wasser und Wald und möglichst viel Stille zum Leben.«
    »Aber Oma kam doch aus der Stadt.«
    »Ja, für sie war das nicht immer leicht. So ist das, wenn man liebt.«
    Der Abzweig nach Sellin tauchte so abrupt vor uns auf, dass der Moskwitsch wieder einmal ins Schlingern kam. Noch fünf Kilometer. Das erste Haus, das wir sahen, war die verlassene Brandruine eines Gutshauses. Danach kam wieder Wald mit schneestarrem Geäst, dann eine Allee und schließlich das Ortsschild. Die Straße war holprig, womöglich nicht einmal geteert. Die Häuser standen in Reihe, dicht an der Straße und wirkten so, als ob sie die Köpfe einzogen und froren. Keine Kneipe, kein Laden, kein Hotel. Über einer mit Brettern vernagelten Ladenfront stand in verblichener Farbe das Wort KONSUM. Das einzige Anzeichen menschlichen Lebens befand sich drei Häuser weiter in Form einer wild blinkenden Leuchtreklame im Fenster von »MONI’S BEAUTY-OASE«. NAILS, entzifferte ich. MAKE-UP. Es hatte etwas Apokalyptisches und zugleich Satirisches, je nachdem, welche Perspektive man einnahm. Und kurz danach war die Hauptstraße auch schon zu Ende.
    »Und jetzt?« Wolle hielt an.
    Ich stieg aus, sah mich um.
    »Gebt mir ein bisschen Zeit, ja? Maximal eine halbe Stunde.«
    Sie widersprachen mir, wollten mich begleiten, ließen sich schließlich doch dazu überreden, auf mich zu warten. Ich lief los und entdeckte nach etwa einhundert Metern einen windschiefen Wegweiser zum See und einen zur

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