Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
Träume viel wichtiger nahm als das Leben.
Von diesen vaterlandslosen roten Halunken lasse ich mich nicht vertreiben
, hat die Mutter später erklärt. Und der Vater hat sie für ihren Leichtsinn gescholten und war dennoch stolz auf sie, das war deutlich zu spüren.
Das Pfarrhaus empfängt Elise mit seinem Modergeruch, der aus jeder Ritze quillt und sich nicht vertreiben lässt, denn sie haben nicht genug Holz, alle Zimmer zu heizen. Elise hängt ihren Mantel an die Garderobe und flieht in die Wärme der Küche. Am Saum ihres Rocks klumpt Schnee, auf einmal fällt ihr das auf, aber nun ist es zu spät, nun beginnt er bereits zu schmelzen. Der wärmste Rock, den sie hat – es wird Stunden dauern, bis er richtig trocken ist, feucht und kalt wird er ihr um die Knöchel schlagen, eine gerechte Strafe.
Sie bleibt stehen, unschlüssig, womit sie beginnen soll, sieht sich um: der grob gezimmerte Arbeitstisch in der Mitte, die rußigen Wände, der Spülstein, der gusseiserne Ofen. Auf der Ablage vor dem Fenster liegt ihr Malblock. Sie hat in den letzten Tagen versucht, das Nachmittagslicht über dem See einzufangen, diesen zartrosa Schimmer im Schilf, doch was sie zustande gebracht hat taugt nichts. Sie nimmt den Block in die Hand und blättert weiter zurück, immer ungeduldiger, immer schneller.
Gefährliche Selbstüberschätzung.
Wieder die Stimme des Vaters, ganz lebendig, ganz nah. Wie recht er doch hatte, mit allem. Warum hat sie ihm das nur niemals gesagt?
Sie entscheidet sich schnell, lässt sich keine Zeit für falsche Wehmut. Sie trägt ihre Bilder zum Herd und wirft sie in die Flammen, holt auch ihr Skizzenbuch, wirft es hinterher. So leicht geht das, so schnell, und es tut gar nicht weh, und Theodor kann ihre Malkästen für den Kindergottesdienst gebrauchen. Wie lange kochen Kartoffeln? Elise greift nach dem Haushaltsbuch, fühlt erneut diese Übelkeit. Schlimmer als je zuvor, und nun scheint auch der Boden gefährlich zu schwanken. Sie sinkt auf die Knie, hört von weither ein Poltern und dann, nach einer Zeitspanne, die sie nicht bemessen kann, Gretas heisere Stimme.
»Frau Vikar, Frau Vikar!« Ganz aufgelöst klingt das, ganz besorgt, und das Hausmädchen tätschelt sogar Elises Rücken und bringt ihr einen Eimer.
»Schh, schh«, flüstert sie und lässt sich selbst dann nicht wegschicken, als Elise zu würgen beginnt. »Das ist doch ganz normal. Das war bei meiner Schwester Inge am Anfang genauso.«
Inge, warum Inge? Was ist denn mit Inge? Die ist doch kerngesund, erst im Dezember hat die ein Baby bekommen. Elise erstarrt. Ein Baby. Ein Kind! Und auch wenn sie nicht begreift, warum sie nach all diesen Monaten Ehe nun plötzlich ebenfalls schwanger sein soll, fühlt sie mit einer geradezu überwältigenden Deutlichkeit, dass es wahr ist, dass Gott sie erhört hat, dass tatsächlich ein Kind in ihr heranwächst, Theodors Kind, ein kleines, ganz unschuldiges Wesen, ein Wunder. Sie hat das schon länger geahnt, wird ihr klar. Sie hat es nur nicht wahrhaben wollen, es als Wunschdenken abgetan, eine weitere Träumerei. Aber es ist kein Traum, es ist wahr. Und mit dieser Erkenntnis wird etwas Neues in ihr berührt: eine Kraft, die sie so noch nicht kennt. Der Wille, ihr Leben zu meistern.
Elise setzt sich auf und sieht ihrer Hausmagd zum ersten Mal seit Langem geradewegs in die wasserblauen Augen.
»Geh jetzt bitte in den Keller«, sagt sie sehr ruhig. »Wir brauchen Kartoffeln, und bring auch fünf Äpfel.«
Greta zögert kaum wahrnehmbar, dann ergreift sie Elises ausgestreckte Hand, hilft ihr beim Aufstehen und hastet los. Leichtfüßig beinahe, und ganz ohne ihr übliches Murren.
9. Rixa
»Es tut mir leid, Rixa, ich hab’s wirklich versucht.«
»Ja?«
»Sie wollten partout jemanden mit mehr Erfahrung.«
»Was soll das denn heißen? Ich bin doch seit Jahren –.«
»Erfahrung im Jazz.« Lorenz holte Luft. Er hatte nicht gefragt, ob ich Zeit hätte, mit ihm zu telefonieren, oder wie es mir ginge, er war direkt zur Sache gekommen, sobald ich ans Handy gegangen war, und auch jetzt sprach er direkt wieder weiter, offenbar war ihm an meiner Meinung nicht wirklich gelegen.
Ich sah aus dem Autofenster, während seine Stimme mir weitere Details der Absage meines geplanten Sommerengagements erläuterte. Die Landschaft, die draußen vorbeizog, wirkte schemenhaft. Der Tag ließ sich Zeit mit dem Licht, doch vielleicht hegte ich auch überzogene Erwartungen, vielleicht war dieses schmuddelige Fahlgrau schon
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